Überblick zur Forschungslage
Überblick zur Forschungslage der Schreibentwicklung
Seit den 1920er Jahren gab es zahlreiche Studien zur Entwicklung des schriftlichen Ausdrucks (u. a. Stormzand & O’Shea 1924; Beckmann 1927; Loban 1976).
Bis in die 1970er Jahre stand die Syntax geschriebener Texte im Mittelpunkt der Forschung.
Forschung konzentrierte sich auf die Optimierung von Indikatoren zur Messung der syntaktischen Komplexität und auf die Untersuchung determinierender Variablen (z. B. Lesehäufigkeit, Intelligenzquotient, Geschlecht, soziale Schicht).
Versuche, diese Untersuchungen in eine umfassende Theorie der Schreibkompetenz und -entwicklung einzubetten, waren bis in die 1970er Jahre selten und nur ansatzweise vorhanden.
Wandel der Forschungsinteressen ab den 1970er Jahren
Erkenntnis, dass die Entwicklung syntaktischen Schreibwissens nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern pragmatische und textkompetenzbezogene Aspekte einbezogen werden müssen.
Fokus verlagerte sich auf das Schreiben als kognitive und kommunikative Handlung.
Psychologen interessierten sich stärker für das Schreiben als kognitiven Problemlösungsprozess, während Pädagogen und Linguisten den kommunikativen Aspekt betonten.
In den 1980er Jahren begann eine Synthese dieser beiden Perspektiven, die Schreiben als sozial-kommunikative Handlung mit kognitiven Problemlösungsaspekten verband
Entwicklung der Forschungsmethoden
Frühe Studien waren strukturell-deskriptiv (z. B. LaBrant 1933; Hunt 1970) oder longitudinal (z. B. Loban 1976).
Ab den 1980er Jahren etablierte sich die prozessorientierte experimentelle Forschung, die den einzelnen Schreiber und seine Schreibprozesse in den Mittelpunkt stellte.
Kritik an kognitiven Modellen führte zu Ansätzen, die die soziale Schreibsituation stärker berücksichtigten und methodisch kontrollierten (z. B. Nystrand 1986; Fitzgerald 1987).
Einführung von „eingreifenden Beobachtungen“, bei denen Schreiber während des Schreibens unterstützt werden, um das Schreiben als isolierten Prozess aufzubrechen und die Bedingungen für Schreibfähigkeit zu testen.
Einfluss der sozialen Kognition auf die Schreibentwicklung & · Untersuchungen nach Altersgruppen
Forschung seit den 1980er Jahren untersucht zunehmend den Zusammenhang zwischen sozialer Kognition und Schreibentwicklung.
Parallelen zur Kritik an Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung: Warnung vor einem a-sozialen Schreibbegriff, der kontextuelle Einflüsse vernachlässigt.
· Untersuchungen nach Altersgruppen:
6-10 Jahre: Untersuchungen zur Syntax (Hannig 1974; Kress 1982), Schreibpraxis (Graves 1983), Textebene (Applebee 1978).
8-14 Jahre: Wichtige Studien von Bereiter & Scardamalia (1987), Langer (1986), Schneuwly (1988).
Jugend bis Adoleszenz: Untersuchungen von Britton et al. (1975), Augst & Faigel (1986), Jechle (1992), Seiffge-Krenke (1987) zum Tagebuchschreiben.
Erwachsene: Studien von Kemper (1990) betonen die lebenslange Schreibentwicklung.
Zusammenfassung
Die Forschung zur Schreibentwicklung hat sich von einer engen Fokussierung auf Syntax hin zu einem umfassenderen Verständnis des Schreibens als kognitiven und kommunikativen Prozess entwickelt.
Moderne Ansätze berücksichtigen sowohl individuelle kognitive Prozesse als auch soziale und kontextuelle Faktoren, um Schreibkompetenz und -entwicklung zu verstehen.
Merkmale der Schreibentwicklung
these von linguistischer Pragmatik, Texttheorie und kognitivem Problemlösen & Schreibkompetenz als Problemlösungsprozess
· Synthese von linguistischer Pragmatik, Texttheorie und kognitivem Problemlösen:
Seit den 1970er Jahren wird Schreiben als problemlösendes kommunikatives Handeln verstanden.
Frühe Forschung konzentrierte sich auf kognitives Problemlösen (Hayes & Flower 1980), später wurde der Fokus auf kommunikative und epistemische Problemlösung erweitert.
· Schreibkompetenz als Problemlösungsprozess:
Entwicklung der Schreibkompetenz wird als Abfolge von Problemlöseschritten verstanden, die auf vorhandener sprachlicher und kommunikativer Kompetenz aufbauen.
Bereiter & Scardamalia prägten den Ausdruck „from conversation to composition“, der den Übergang von mündlicher zu schriftlicher Kommunikation beschreibt.
Herausforderungen beim Schreiben im Vergleich zum Sprechen & Aufbau eines neuen sprachlich-kommunikativen Handlungswissens
· Herausforderungen beim Schreiben im Vergleich zum Sprechen:
Entfall von Gestik, Mimik, Intonation und anderen unbewussten Codierungsmöglichkeiten erfordert eine symbolische Durchstrukturierung der Sprache.
Fehlender direkter Kontext beim Schreiben erfordert die Schaffung einer Textwelt durch Kontextualisierung.
Schreiben ist langsamer als Sprechen, daher müssen Textpläne die Produktion leiten und kontinuierliche Überarbeitungen erfolgen.
· Aufbau eines neuen sprachlich-kommunikativen Handlungswissens:
Schreibentwicklung führt nicht nur zu zusätzlicher Kompetenz, sondern zu einem eigenständigen sprachlichen und kommunikativen Handlungswissen.
Dieses Wissen kann unter bestimmten Bedingungen auch zur Norm für mündliche Textproduktion werden.
Einflussfaktoren auf die Schreibentwicklung & Entwicklungslinien für Schreibkompetenz
· Einflussfaktoren auf die Schreibentwicklung:
Fortschritte hängen von der kognitiven und sozialisatorischen Entwicklung ab (z. B. Weltwissen, kommunikative Normen, kognitive Standards).
Schreibkompetenz entwickelt sich durch eine Balance zwischen kreativer Aneignung und routinisierter Praxis (motorische, graphematische, literale Routinen).
· Entwicklungslinien für Schreibkompetenz:
Allgemeine Entwicklungslinien sollen anhand der Entwicklung syntaktischer und textorientierter Schreibkompetenzen aufgezeigt werden.
Altersvariable dient als Orientierung, aber entscheidend ist das „Schreibalter“, d. h. die praktische Schreiberfahrung und Dauer der Auseinandersetzung mit literalen Normen
Schlussfolgerung zur Schreibentwicklung
Schreibkompetenz entwickelt sich konsistent, unabhängig von entwicklungspsychologischen Faktoren, aber in Abhängigkeit von kulturellen und ontogenetischen Bedingungen.
Empirisch vollzieht sich der Prozess abhängig von Kommunikationszielen, Weltwissen, symbolischen Fähigkeiten und dem gesellschaftlichen Kontext schriftlicher Kommunikation.
Syntaktische Schreibfähigkeiten
Historisches Übergewicht der Syntax in der Schreibforschung
Syntax war über Jahrzehnte zentral in der Forschung zur Schreibentwicklung.
Besonders im Kontext der nativistischen Hypothese wurde Syntax als Kern der Sprachkompetenz betrachtet und als Ausdruck logischen Denkens gesehen.
Ab den 1970er Jahren wurde Syntax zunehmend aus der Perspektive des kognitiven Schreibens und der Kommunikation untersucht.
Wandel des Verständnisses von Syntax im Schreiben
Schreiber müssen im schriftlichen Ausdruck die fehlenden nonverbalen Elemente (Gestik, Mimik) durch komplexe Syntax und differenziertes Lexikon kompensieren.
Der Schreiber schafft eine Textwelt durch syntaktische und semantische Strukturen, um den Leser zu orientieren.
Die Fähigkeit zur rekursiven Einbettung von Propositionen wird besonders wichtig für schriftliche Kommunikation.
Entwicklung der syntaktischen Schreibfähigkeiten
Entwicklung von einer handlungslogisch bestimmten zu einer darstellungslogisch bestimmten Syntax.
Darstellungslogik ist stark von der Textfunktion und Textsorte abhängig.
Die Entwicklung der syntaktischen Fähigkeiten ist kein linearer Prozess hin zu höherer Komplexität, sondern führt auch zu textuellen Strukturen, die Kontextualisierungsfunktionen übernehmen.
Drei Trends in der Entwicklung syntaktischer Schreibfähigkeiten & Beispiele für die Entwicklung syntaktischer Fähigkeiten
Syntaktisierung von Bedeutung:
Mit zunehmendem Alter werden immer mehr semantische Informationen im gleichen Satz verknüpft, was zu längeren Sätzen führt.
Funktionale Differenzierung und Einbettungstiefe:
Entwicklung von Satzkoordination über Subordination zur Integration auf der Phrasenebene.
Pragmatische Anpassung der syntaktischen Fähigkeiten:
Übergang von expliziter syntaktischer Verknüpfung zu textgesteuerter Aktivierung von Schemata; Entwicklung von syntaktischer Kohäsion zu semantischer und pragmatischer Kohärenz.
· Beispiele für die Entwicklung syntaktischer Fähigkeiten:
Beispiele aus Texten von 8- bis 17-jährigen zeigen die Entwicklung von einfachen koordinativen Sequenzen zu komplexeren syntaktischen Strukturen und der Integration von Subordination.
Jüngere Schreiber verwenden mehr koordinierende Satzverbindungen; ältere Schreiber nutzen differenzierte Subordinationstechniken.
Entwicklung der Subordination und Phrasenintegration & Rückgang bestimmter syntaktischer Strukturen
· Entwicklung der Subordination und Phrasenintegration:
Ab ca. 14 Jahren stabilisiert sich die Subordination, während die syntaktische Integration auf der Phrasenebene zunimmt.
Nominalisierungen und Linkserweiterungen von Nomina werden häufiger, was zu einer ökonomischeren Ausdrucksweise führt.
· Rückgang bestimmter syntaktischer Strukturen:
Ab einem bestimmten Alter (ca. 14 Jahre) nimmt der Gebrauch von logischen Adverbialsätzen und Satzkonjunktionen ab.
Diese Entwicklung widerspricht der Annahme einer zunehmenden Explizitheit schriftlicher Texte.
Statt expliziter Verknüpfungen setzt der Schreiber auf thematische Progression und das Vorwissen des Lesers.
Schlussfolgerung zur syntaktischen Schreibentwicklung
Die syntaktische Strukturierung orientiert sich zunehmend an der Erzeugung von Kohärenz.
Mit der Entwicklung der Schreibfähigkeiten nimmt die Bedeutung der syntaktischen Konnexion ab, während syntaktische Integration und kohärenzbasierte Textstrukturen wichtiger werden.
Textbezogene Schreibkompetenzen
Entwicklung von Schreibfähigkeit wird oft als Übergang von „Äußerung zu Text“ oder „Konversation zu Komposition“ beschrieben.
Texte stehen im Zentrum der Schreibbemühungen, nicht einzelne Wörter oder Sätze.
Kategorien der Analyse
In den 1980er Jahren führte die Erkenntnis der zentralen Rolle von Texten zu zahlreichen textorientierten Studien.
Zwei Hauptansätze:
Kohäsion: Untersuchung der internen textlinguistischen Verbindungen (z. B. lexikalische Wiederaufnahme, Pronominalisierung, Adverbien, Konjunktionen).
Kohärenz: Untersuchung der kognitiven und kommunikativen Gesamtstruktur von Texten.
Kohärenz vs. Kohäsion & Ausbau von Kohärenzstrategien
Kohärenz vs. Kohäsion:
Kohärenz ist der Kohäsion überlegen in Bezug auf Textverstehen und Entwicklung.
Kohäsion stützt Kohärenz, garantiert sie aber nicht.
Kohärenz hängt von der antizipierten Perspektive des Lesers und von entwicklungspsychologischen Faktoren wie kognitive Dezentrierung und soziale Perspektivenübernahme ab.
· Ausbau von Kohärenzstrategien:
Stufenmodelle nach Piaget oder Wygotsky werden genutzt, um die Entwicklung textorientierter Schreibkompetenzen zu beschreiben.
Schreibkompetenzmodelle berücksichtigen emotionale, kognitive, sprachliche und soziale Entwicklungen.
Vierstufiger Prozess der Perspektivdezentrierung (Feilke, 1988)
Subjektive Erlebniswelt des Ich.
Objektive Welt der Dinge aus der Sicht des Ich.
Sprache und Text als Medium.
Wechselseitigkeit der Perspektiven und Orientierung auf den anderen.
Kohärenzprinzipien
Stufe 1: Szenische Kontiguität:
Textstruktur folgt einer chronologischen Abfolge von Erlebnissen; dominierende Kohäsionsmittel sind temporale Konjunktionen und Adverbien.
Erzählungen basieren auf konversationellen Mustern und sind die frühesten vertrauten Texttypen.
Stufe 2: Sachlogische Ordnung:
Schreiber lernen, Inhalte nach sachlogischen Gesichtspunkten zu strukturieren, unabhängig von subjektiver Involvierung.
Sachorientierte Strukturen dienen der Textorganisation (z. B. thematische Frames).
Stufe 3: Formale Ordnung:
Orientierung an formalen Textordnungskriterien (z. B. Pro-Contra-Conclusio-Schema, Aufzählungen).
Formale Kohärenz wird durch schriftsprachlich lexikalisierte Routinen unterstützt.
Stufe 4: Dialogische Ordnung:
Texte werden explizit auf den Adressaten hin orientiert; Nutzung von Metakommunikation, thematischen Organisatoren, und dialogischen Signalen.
Die Fähigkeit zur Anwendung solcher Strategien entwickelt sich erst ab der Adoleszenz.
Herausforderungen bei der Sicherung von Kohärenz
Höhere Abstraktionsanforderungen machen es schwieriger, inhaltliche und soziale Kohärenz gleichzeitig zu sichern.
Besonders anspruchsvoll ist dies beim argumentativen Schreiben.
Schlussfolgerung
Die Entwicklung textbezogener Schreibkompetenzen ist ein kontinuierlicher Prozess, der nicht an ein bestimmtes Alter gebunden ist.
Die Weiterentwicklung hängt von den Aufgaben ab, die sich den Schreibern stellen.
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