Buffl

Interkulturelle Germanistik

AG
von Adele G.

Entstehungsgeschichte und Grundkonzeption

1. Entwicklung der interkulturellen Germanistik in den 1970er und 1980er Jahren

  • Entstand im Fachbereich „Deutsch als Fremdsprache“.

  • Alois Wierlacher spielte eine zentrale Rolle und prägt den Diskurs bis heute mit zahlreichen Publikationen.

  • Hintergrund: Die Attraktivität des Faches Deutsch in der kriselnden Auslandsgermanistik steigern, um langfristig die Studierendenzahlen und den Fortbestand der Germanistikabteilungen zu sichern.

2. Adressatenbezogene Germanistik

  • Notwendigkeit, das Studium der Germanistik an die Gegebenheiten und Interessen der Studierenden vor Ort anzupassen (Adressatenbezug).

  • Daraus entwickelte sich ein „Mehrkomponentenbündel“ in der Germanistik, bestehend aus:

    • Linguistik

    • Literaturwissenschaft

    • Deutsche Landeskunde

3. Erweiterung der Germanistik in Entwicklungsländern

  • Ziel: Die interkulturelle Germanistik sollte die wirtschaftlich-technische Entwicklungshilfe durch kulturwissenschaftlich-pädagogische Maßnahmen ergänzen.

  • Ziel der „Kulturmündigkeit“:

    • Unterstützung zur „Hilfe zur Selbsthilfe“ in Entwicklungsländern.

    • Kulturwissenschaften und Technik-/Naturwissenschaften sollten komplementär zusammenwirken.

4. Berufliche Ziele der interkulturellen Germanistik

  • Förderung der Befähigung deutscher und ausländischer Studierender für Berufe in der internationalen Zusammenarbeit.

  • Praxisfelder:

    • Internationale Wirtschaft

    • Grenzüberschreitende Verwaltung

    • Auslandsbezogene Bildungsbereiche

    • Wissenschaft

    • Kulturarbeit

    • Medien

    • Diplomatie

1. Kritik an der interkulturellen Germanistik

  • Im Sammelband „Interkulturelle Germanistik: Dialog der Kulturen auf Deutsch?“ wurde die Zielsetzung der interkulturellen Germanistik ironisch hinterfragt:

    • „Deutsch als Fremdsprache“ wird als kontrastive Kulturwissenschaft dargestellt, die Entwicklungsländern Orientierung bei Industrialisierung und Modernisierung geben soll, durch die kritische Auseinandersetzung mit dem „Modell Deutschland“.

  • Kritiker beklagen einen zunehmend technokratischen Zuschnitt des Faches und die Degradierung der Germanistik zur „Hilfswissenschaft der Ökonomie“.

2. Reaktion auf die Kritik

  • In Reaktion auf diese Kritik betont die interkulturelle Germanistik nun stärker den wechselseitigen interkulturellen Dialog als Ziel.

    • Deutschstudien existieren weltweit, aber die Perspektiven auf Deutschland und deutschsprachige Länder sind unterschiedlich.

    • Ziel: Die globale Vielfalt der Perspektiven anzuerkennen und in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen.

3. Kontroverse um den interkulturellen Dialog

  • Auch diese Konzeption des Dialogs bzw. Polylogs ist umstritten:

    • Aus postkolonialer Perspektive wird kritisiert, dass die Kommunikationsverhältnisse in den sogenannten Entwicklungsländern (oft ehemalige Kolonien und Orte des wirtschaftlichen Neokolonialismus) nicht die Voraussetzungen für einen gleichberechtigten Dialog bieten.

    • Ein echter Dialog setzt gleichwertige Partner voraus, was in der Realität nicht gegeben ist.

4. Eingeständnis von Wierlacher

  • Alois Wierlacher räumt ein, dass der interkulturelle Dialog eher eine Zielvorgabe und kein „real existierender Diskurs“ ist.

5. Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG)

  • Die GiG, 1984 gegründet, vertritt die Zielsetzungen der interkulturellen Germanistik aktiv.

  • Wichtige Publikationsorgane sind:

    • Das Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache (seit 1995 mit dem Untertitel „Intercultural German Studies“).

    • Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik.

  • Diese Publikationen sind zentrale Informationsquellen zur intensiven Beschäftigung mit der interkulturellen Germanistik.


Interkulturelle Hermeneutik

1. Idealistische Zielvorgaben der interkulturellen Germanistik

  • Die Frage, ob die Zielvorgaben der interkulturellen Germanistik realisierbar sind oder nur ein „eklektizistisches Konglomerat von Gesinnungsbekenntnissen“ darstellen, hängt davon ab, wie man die Möglichkeiten und Grenzen interkultureller Verständigung beurteilt.

2. Interkulturelle Hermeneutik als theoretische Grundlage

  • Die interkulturelle Hermeneutik bildet die theoretische Grundlage für interkulturelle Verständigungsprozesse.

    • Sie hat sich als Spezialdiskurs innerhalb der philosophischen Hermeneutik entwickelt, die sich allgemein mit dem Verstehen befasst.

3. Traditionelle Hermeneutik (Gadamer)

  • In der traditionellen Hermeneutik (Hans-Georg Gadamer) steht die Überwindung von Fremdheit im Mittelpunkt des Verstehensprozesses:

    • Dabei geht es um die Fremdheit der historischen Distanz zwischen dem Zeitpunkt der Textentstehung und der Lektüre durch den Leser.

    • Gadamer spricht von zwei Verstehenshorizonten (Text und Leser), die durch einen Horizontverschmelzungsprozess angenähert werden müssen.

    • Voraussetzung für dieses Verstehen ist eine basale Vertrautheit mit der Kultur des Textes, die durch eine gemeinsame Traditionsgeschichte gewährleistet wird.

    • Diese Tradition verbindet die Gegenwart mit der Vergangenheit, was Gadamer als Wirkungsgeschichtebeschreibt.

4. Kritik an Gadamers Traditionsbegriff

  • Gadamers Konzept wurde kritisiert, da es ein rein affirmatives Verständnis von Tradition bietet und die Möglichkeit eines radikalen Traditionsbruchs nicht berücksichtigt.

  • Trotz dieser Kritik gehen auch neuere Hermeneutikkonzepte davon aus, dass Verstehen nur durch eine grundlegende Gemeinsamkeit möglich ist.

    • In Jürgen Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns ist die gemeinsame Lebenswelt der Beteiligten Grundlage der Kommunikation.

    • Diese „gemeinsame Lebenswelt“ ist ein intuitiv gewusster, unproblematischer Hintergrund.

5. Zusammenfassung des hermeneutischen Grundsatzes

  • Peter J. Brenner fasst den aktuellen Stand der Hermeneutik zusammen:

    • „Die Fremdheit macht Verstehen notwendig, die Vertrautheit macht es möglich.“

6. Interkulturelle Begegnungen und Herausforderungen für die Hermeneutik

  • Bei interkulturellen Begegnungen wird die hermeneutische Ausgangslage komplexer:

    • Es handelt sich nicht nur um zeitliche Fremdheit innerhalb einer Kultur, sondern um kulturelle Fremdheit.

    • Diese kulturelle Fremdheit lässt den gemeinsamen kulturellen Hintergrund (Traditionszusammenhang oder Lebenswelt) vermissen, der normalerweise das Verstehen ermöglicht.

1. Kritik an der traditionellen Hermeneutik (Wierlacher)

  • Alois Wierlacher kritisiert die traditionelle Hermeneutik, insbesondere das Konzept der Horizontverschmelzung:

    • Dieses Konzept könnte im interkulturellen Kontext zu einer „Auflösung des Anderen im Eigenen“ führen.

    • Statt das kulturell Fremde in seiner Fremdheit zu erkennen, wird versucht, im Fremden das Eigene zu finden, was Wierlacher als eine Form von kolonialem Denkmuster sieht.

2. Hermeneutik der Distanz (Wierlacher)

  • Wierlacher plädiert für eine Hermeneutik der Distanz, die besser auf die Kommunikationsbedingungen in interkulturellen Begegnungen abgestimmt ist.

  • Im Zentrum der interkulturellen Germanistik steht die gemeinsame Lektüre deutscher literarischer Texte:

    • Der Leser soll lernen, Abstand von seiner eigenen kulturellen Perspektive zu nehmen, um dem Text näher zu kommen.

    • Beide Seiten (Leser und Text) profitieren davon, wenn kulturelle Sichtgrenzen geweitet werden.

    • Dies führt zu einem tieferen Verständnis des Textes und zu einem besseren Selbstverstehen der Lesenden.

3. Verstehen in der interkulturellen Germanistik

  • In der interkulturellen Germanistik ist der deutsche Text bzw. die deutsche Kultur aus der Perspektive ausländischer Studierender das Fremde, das verstanden werden soll.

  • In zweiter Linie geht es darum, durch den Lektüreprozess auch die fremden Kulturen besser zu verstehen.

4. Hermeneutik des Komplements

  • Wierlacher spricht von einer „Hermeneutik des Komplements“:

    • Diese bezieht sich auf das Zusammenspiel verschiedener kultureller Innen- und Außensichten.

    • Es wird versucht, verschiedene Perspektiven auf einen Text zu integrieren, um ein tieferes Verständnis zu erreichen.

5. Kritik an der Hermeneutik der Distanz

  • Die Einbahnstraßenkommunikation in der interkulturellen Germanistik wird kritisiert:

    • Ein echter interkultureller Dialog erfordert auch die gemeinsame Lektüre autochthoner Texte in der Originalsprache.

    • Zudem ist die Annahme konsistenter Innen- und Außenperspektiven problematisch, da das Textverständnis auch innerhalb einer Kultur individuell stark variieren kann.

6. Anthropologische Konstanten / Universalthemen

  • Um das Grundproblem der mangelnden gemeinsamen Verstehensgrundlage zu lösen, führt die interkulturelle Germanistik das Konzept von anthropologischen Konstanten oder allgemeinen Universalthemen ein.

    • Beispiele: Raum und Zeit, Geburt und Tod, Essen, Arbeit, Toleranz, Verhältnis von Eigenem und Fremden.

    • Diese Themen sind allen Menschen gemeinsam und kommen oft in der Literatur vor, wodurch sie als Basis für interkulturelles Verstehen dienen könnten.

1. Kritik an anthropologischen Universalien (Peter J. Brenner)

  • Brenner formuliert zwei zentrale Kritikpunkte zu den anthropologischen Universalien in der interkulturellen Hermeneutik:

    1. Kulturelle Differenzen:

      • Anthropologische Universalien wie "Essen" existieren zwar, aber sie sind nicht als Ausgangspunkt für interkulturelle Hermeneutik geeignet.

      • Diese Themen werden erst interessant, wenn sie kulturell spezifisch und historisch konkret werden, z.B. Unterschiede in Essgewohnheiten zwischen Kulturen.

      • Das bloße Vorhandensein einer universellen Konstante wie "Essen" trägt wenig zum Verstehen der spezifischen kulturellen Unterschiede bei.

    2. Kulturelle Vereinheitlichung in der Globalisierung:

      • Interkulturelle Kommunikation wird in der globalisierten Welt zunehmend möglich, aber dies basiert nicht auf anthropologischen Universalien.

      • Vielmehr ist dies ein Ergebnis des Prozesses der Europäisierung durch wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kolonialismus und Imperialismus.

      • Brenner sieht in den anthropologischen Universalien eine Form des Eurozentrismus, bei der europäische Traditionen verallgemeinert und als universell dargestellt werden.

2. Reaktion auf die Kritik an Universalien

  • Funktionalistische Als-ob-Konstruktionen:

    • Einige Modelle der interkulturellen Hermeneutik erkennen die Problematik der Universalien an.

    • Sie verwenden jedoch Konstruktionen, die so tun, als ob interkulturelles Verstehen ohne diese Universalien nicht möglich wäre.

  • Hermeneutischer Eurozentrismus:

    • Es wird die Forderung nach einem bewussten Eurozentrismus erhoben, der als Reflexionsmittel für die eigene Kultur dient.

    • Hier geht es weniger um das Verständnis der anderen Kultur, sondern um die Relativierung der eigenen Lebensform und das Überdenken dogmatischer Ansichten.

3. Aufgabe der interkulturellen Hermeneutik (Brenner)

  • Reflexion der Vorurteilstruktur:

    • Die Aufgabe der interkulturellen Hermeneutik besteht darin, die Vorurteilstrukturen zu reflektieren, die den Rahmen des interkulturellen Verstehens bestimmen.

    • Diese Vorurteile sollen in fortlaufenden Aufklärungs- und Reflexionsprozessen bewusst gemacht werden.

    • Ein reflektiertes Vorurteil hat eine andere Funktion als ein unreflektiertes, das auf Traditionen oder unkritischen Autoritäten beruht.

    • Brenner schließt mit der Feststellung, dass eine transparent gemachte Vorurteilstruktur nicht mehr als unreflektiertes Vorurteil agieren kann.


Kulturelle und Poetische Alterität

1. Zentrale Rolle der Literatur in der interkulturellen Hermeneutik

  • Selbstreflexion und interkulturelle Verständigung:

    • Unabhängig davon, ob interkulturelle Hermeneutik als Mittel zur Selbstreflexion kultureller Voraussetzungen oder als Weg zu interkultureller Verständigung gesehen wird, spielt die Literatur eine zentrale Rolle.

2. Doppelte Funktion der Literatur (Norbert Mecklenburg)

  • Literatur hat ein besonderes interkulturelles Potential in zwei Aspekten:

    1. Thematisierung kultureller Differenzen (kulturelle Alterität):

      • Literatur behandelt kulturelle Differenzen, sowohl inhaltlich als auch formal.

    2. Differenzerfahrung sui generis (poetische Alterität):

      • Literatur sensibilisiert Leser für Differenzerfahrungen, da sie als autonome Sinnsphäre auftritt.

      • Sie zeigt die Relativität der eigenen Weltwahrnehmung und fördert die Sensibilität für kulturelle Differenzen.

3. Literatur als Medium zur Selbstreflexion kultureller Wirklichkeit

  • Literatur hat das Potential, die kulturelle Konstruktion der Wirklichkeit zu reflektieren:

    • Sie inszeniert kulturelle Differenzen und spielt mit kulturellen Sprachspielen und Sinnsystemen.

    • Es werden Identitäten, Selbst- und Fremdbilder sowie reale und imaginäre Elemente verfremdet und neu dargestellt.

    • Literatur macht die Mechanismen der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit durchsichtig, indem sie die Ideologieproduktion hinterfragt:

      • Homogenisierung, Polarisierung, Generalisierung, Selektion, Projektion, Abstraktion und Reduktion werden durch literarische Mittel aufgezeigt und verfremdet.

4. Funktion der Literatur bei der Identitätsbildung

  • Die Lektüre und Interpretation von Literatur kann aufzeigen:

    • Wie kulturelle Differenzen inszeniert und kulturspezifisch produziert werden.

    • Wie Selbst- und Fremdbilder (Auto- und Heterostereotype) entstehen.

    • Welche Rolle diese Bilder bei der individuellen und kollektiven Identitätsbildung spielen.


Author

Adele G.

Informationen

Zuletzt geändert