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Europarecht EuGH-Fälle (Primärrecht)

FL
von Florian L.

Was war der Hintergrund des Avoir-Fiscal-Urteil?

1. Hintergrund und Sachverhalt:

Frankreich hatte ein Steuergutschrift-System (avoir fiscal), das die wirtschaftliche Doppelbesteuerung von Dividenden verhinderte. Dieses System galt jedoch nur für inländische Anteilseigner sowie für Aktionäre aus bestimmten Ländern, mit denen Frankreich Doppelbesteuerungsabkommen hatte. 👉 Ausländische Anteilseigner aus anderen EU-Staaten ohne entsprechendes Abkommen erhielten keine Steuergutschrift, was ihre Dividenden faktisch niedriger machte.

Die EU-Kommission sah darin einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit und klagte Frankreich vor dem EuGH.

2. Rechtliche Fragestellung:

Verstößt Frankreichs steuerliche Ungleichbehandlung gegen:

  • Art. 52 EWG-Vertrag (heute Art. 49 AEUV – Niederlassungsfreiheit)?

  • Art. 5 EWG-Vertrag (heute Art. 4 EUV – Loyalitätsgebot)?

3. Entscheidung des EuGH:

Der EuGH gab der Kommission Recht:

  1. Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit:

    • Frankreich diskriminierte Unternehmen und Aktionäre aus anderen Mitgliedstaaten.

    • Kapitalbeteiligungen sind eine Form der Niederlassung, und unterschiedliche Steuerregelungen erschweren Investitionen in Frankreich.

  2. Verstoß gegen das Loyalitätsgebot:

    • Frankreich untergrub die Verwirklichung des gemeinsamen Marktes durch protektionistische Steuerpraktiken.

4. Zentrale Argumente des EuGH:

  • Keine Rechtfertigung durch steuerliche Souveränität: Nationale Steuersysteme dürfen den Binnenmarkt nicht behindern.

  • Effet utile (Wirksamkeitsgrundsatz): Die Niederlassungsfreiheit wäre wirkungslos, wenn Mitgliedstaaten Investoren durch steuerliche Nachteile abschrecken.

5. Bedeutung und Folgen:

💡 Unmittelbare Auswirkungen: Frankreich musste sein Steuersystem reformieren und die Diskriminierung beenden.

💡 Langfristige Relevanz:

  • Stärkung des Binnenmarktes: Das Urteil setzte Maßstäbe für den freien Kapitalverkehr.

  • Grundstein für Folgerechtsprechung: Wichtige Referenz für spätere Urteile wie Metallgesellschaft/Hoechst (Rs. C-397/98 und C-410/98) und Denkavit (Rs. C-170/05).

  • Harmonisierung des Steuerrechts: Druck auf Mitgliedstaaten, diskriminierende Steuerregelungen abzuschaffen.


Worum ging es bei de Lasteyrie du Saillant (C-9/02)?


  1. Auf welche Grundfreiheit(en) kann sich Herr de Lasteyrie du Saillant berufen?

  2. Prüfen Sie den Fall auf Grundlage des Prüfschemas des EuGH.

  3. Welche Regelung des deutschen Steuerrechts ähnelt der streitgegenständlichen französischen Regelung und wie ist diese europarechtlich zu beurteilen?


Herr de Lasteyrie du Saillant verlegte 1998 seinen Wohnsitz von Frankreich nach Belgien. Zu diesem Zeitpunkt hielt er eine Beteiligung von über 25% an einer französischen Kapitalgesellschaft. Im Wegzugszeitpunkt wurde vom französischen Fiskus gemäß Art. 167a CGI, der Vorbeugung gegen die Steuerflucht dienen sollte, eine Steuer auf die stillen Reserven festgesetzt.

  1. Niederlassungsfreiheit

    • Die Niederlassungsfreiheit verbietet sowohl die Diskriminierung im Aufnahmestaat als auch im Herkunftsstaat.

  2. Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit

    • Die Besteuerung von nicht realisiertem Einkommen bei Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland führt zu einer Benachteiligung gegenüber einer Person, die ihren Wohnsitz im Inland beibehält oder verlegt.

    • Auch der mögliche Zahlungsaufschub, der u.a. an die Leistung von Sicherheiten geknüpft wird, hat beschränkende Wirkung, denn der Steuerpflichtige kann die als Sicherheiten geleisteten Vermögenswerte nicht nutzen.

Rechtfertigung

  • Gefahr der Steuerumgehung Die pauschale Unterstellung, dass die Verlegung des Wohnsitzes stets der Steuerumgehung dient, lässt sich nicht rechtfertigen.

  • Verhältnismäßigkeit Das Ziel, zu verhindern, dass ein Steuerpflichtiger die Zahlung der in Frankreich auf die Wertsteigerung zu entrichtenden Steuern umgeht, lässt sich auch durch weniger einschneidende Maßnahmen erreichen


Mögliche Lösung:

  • Feststellung der stillen Reserven zum Zeitpunkt des Wegzugs und Festsetzung im zugestellten Steuerbescheid mit zinsloser Stundung bis zur tatsächlichen Realisierung; Kontrollmitteilung möglich. Vgl. dazu auch § 6 AStG


National Grid Indus, C-371/10 (2011)?


  1. Auf welche Grundfreiheit(en) kann sich NGI berufen?

  2. Prüfen Sie den Fall auf Grundlage des Prüfschemas des EuGH.

  3. Welche Regelung des deutschen Steuerrechts ähnelt der streitgegenständlichen niederländischen Regelung und wie ist diese europarechtlich zu beurteilen?


  1. Niederlassungsfreiheit (Nur HR; nKAr)

    Vorfrage: Ob Sitzverlegung zum Wegfall der Rechtsfähigkeit im Herkunftsstaat führt, bestimmt sich „beim derzeitigen Stand des Unionsrechts“ allein nach nationalem Recht (keine Berufung auf Niederlassungsfreiheit)

    Gründungstheorie: NGI ist trotz Verlegung des Verwaltungssitzes weiterhin als Gesellschaft niederländischen Rechts anzusehen -> Berufung Niederlassungsfreiheit grds. zulässig • Die Niederlassungsfreiheit verbietet sowohl die Diskriminierung im Aufnahmestaat als auch im Herkunftsstaat.

Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit

Die Besteuerung von nicht realisiertem Einkommen bei Verlegung des Verwaltungssitzes ins Ausland führt zu einer Benachteiligung gegenüber einer Gesellschaft, die ihren Verwaltungssitz im Inland verlegt.

Rechtfertigung

  1. Ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den MS Herkunftstaat muss grds. nicht auf sein Besteuerungsrecht betr. den Wertzuwachs, der im Rahmen seiner Steuerhoheit vor dieser Verlegung erzielt wurde, verzichten.


  1. Konkrete Gefahr der Steuerumgehung (negativ)


Verhältnismäßigkeit

  1. Niederländische Schlussbesteuerung (Festsetzung der Höhe der Steuerschuld als auch die Einziehung dieser Schuld)

    • dient einem mit dem AEUV vereinbaren Ziel (+)

    • zur Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse geeignet (+)

    • geht nicht über das hinaus, was zur Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse erforderlich ist

      • Festsetzung der Höhe der Steuerschuld (+)

      • Nichtberücksichtigung von späteren Wertminderungen (+)

      • sofortige Einziehung dieser Schuld (-)


        Argument MS: Aufgeschobene Besteuerung führt zu hohem Verwaltungsaufwand betr. die Nachverfolgung der Wirtschaftsgüter für Gesellschaft und Finanzverwaltung und belastet daher steuerpflichtige Gesellschaft ebenso

EuGH: Wahlfreiheit für stpfl. Gesellschaft zwischen Sofortbesteuerung und aufgeschobener Besteuerung = milderes Mittel

  • Im Fall der aufgeschobenen Besteuerung soll

    • Erfordernis einer Bankbürgschaft

    • Verzinsung (Stundungszinsen) zulässig sein.


      Anm.: Damit weicht der EuGH von seinen Ausführungen in der Rs. de Lasteyrie du Saillant und der Rs. N ab, zudem wären im innerstaatlichen Vergleichssachverhalt mangels Steuerentstehung weder eine Gestellung von Sicherheit noch eine Erhebung von Stundungszinsen möglich.



Urteil Cadbury Schweppes


Auf welche Grundfreiheit(en) kann sich Cadbury Schweppes Overseas Ltd. berufen?


Prüfen Sie den Fall auf Grundlage des Prüfschemas des EuGH.

Niederlassungsfreiheit

  • Herkunftsmitgliedstaat (Wegzugs/ Hinzugsstaat)

Dienstleistungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit (Gilt auch für Drittstaaten)

  • Subsidiär gegenüber Niederlassungsfreiheit:

    Sofern die Rechtsvorschriften über beherrschte ausländische Gesellschaften, beschränkende Auswirkungen auf die Dienstleistungsfreiheit und auf die Kapitalverkehrsfreiheit haben, sind derartige Auswirkungen die unvermeidliche Konsequenz einer eventuellen Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und rechtfertigen jedenfalls keine eigenständige Prüfung der genannten Rechtsvorschriften im Hinblick auf die Artikel 56 und 63 AEUV.

Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit


Rechtfertigung

  • zwingende Gründe des öffentlichen Interesses

    • Möglichkeit des Vorteilsausgleichs

      • Vorteil der geringen Steuerbelastung in Irland gibt dem Vereinigten Königreich nicht das Recht, diesen Vorteil durch eine weniger günstige steuerliche Behandlung der MG auszugleichen.

    • Gefahr der Steuerumgehung

      • Gründung einer TG in einem anderen MS begründet nicht die allgemeine Vermutung der Steuerhinterziehung.

      • Nationale Regelung kann gerechtfertigt sein, wenn sie sich speziell auf die Verhinderung rein künstlicher, jeder wirtschaftlichen Realität barer Gestaltungen, die der Steuerumgehung dienen, bezieht.v


Verhältnismäßigkeit

  • Geeignetheit der Regelung

  • Erforderlichkeit der Regelung

  • Geht die Regelung zur Erreichung des Ziels über das hinaus, was hierzu erforderlich ist?

  • Regelung darf nicht Gründung von TG erfassen, die mit einer tatsächlichen Ansiedlung zusammenhängt, deren Zweck darin besteht, wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeiten im Aufnahmestaat nachzugehen.

  • Anhaltspunkte: Ausmaß der tatsächlichen Ansiedlung in Form von Geschäftsräumen, Personal und Ausrüstungsgegenständen.

  • Regelung muss beschränkt sein auf fiktive Ansiedlungen („Briefkastenfirma“) -> ABRENZUNG

  • Überprüfbarkeit: Amtshilferichtlinie


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Florian L.

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