Zentrale Frage der Glaubhaftigkeitsbegutachtung
Könnte die (Zeugen)Aussage anders als durch tatsächlichen Erlebnishintergrund zustande gekommen sein?
Im wesentlichen 2 Gegenannahmen:
Absichtliche Falschdarstellung (Lügenhypothese)
Subjektiv für wahr gehaltene Darstellung, die aber nicht der Realität entspricht (Suggestionshypothese)
Weitere Möglichkeiten:
Übertragung von tatsächlichem Erlebnis auf anderen Beschuldigten, Pseudoerinnerung wurde absichtlich durch Dritten induziert, etc.
Voraussetzungen für Gegenhypothesen
Lügenhypothese
Motivation
Fähigkeit, andere zu täuschen
Relevantes Wissen (bei Kindern häufig nicht gegeben)
Suggestionshypothese
Suggestive Bedingungen wie
Voreinstellung bei Fragenden
Wiederholte Befragungen
Suggestive Befragungstechniken
Theoretische Überlegungen
Arousal-Ansatz:
Lügende zeigen bestimmte physiologische Merkmale (Blutdruck, Stimmlage) in höherem Ausmaß
Kognitiver Ansatz: hohe mentale Anforderungen an Lügende -
höhere Antwortlatenz, langsamer sprechen, weniger Körperbewegungen
Ergebnisse Meta-analysen ernüchternd: kaum nennenswerte Unterschiede zwischen lügenden und wahrheitsgemäß aussagenden Personen
Hypothese nach Undeutsch
Erfahrungen aus forensischer Praxis:
Wahre Aussagen weisen im Vgl. zu erfundenen Aussage höhere Qualität auf
Lügende Person muss viele Aufgaben bewältigen: Plausibilität der Falschaussage, welche auf kognitiven Schemata basiert, ggf. spontane Ergänzungen, diese behalten, keine Skepsis auslösenden Informationen erwähnen etc.
Wahrheitsgemäß Aussagende muss lediglich Erlebtes rekonstruieren
Episodischer Charakter von Erinnerungen: visuelle, auditive, olfaktorische etc. Informationen werden gespeichert
Undeutsch-Hypothese ist theoretisch begründbar
Geringere Qualität erfundener Aussagen
Erlebnisfundierte Aussagen weisen häufiger bestimmte Merkmale auf, die in unwahren Aussagen seltener zu finden sind
Z.b. irrelevante Details, schemainkonsistente Details
Erfundene Aussagen enthalten vorrangig elementare direkt zum Handlungsziel hinführende Sequenzen
Art der Selbstpräsentation unterscheidet sich ebenfalls:
Selbstkorrektur, Zugeben von Erinnerungslücken, Selbstbeschuldigung bei lügenden kaum zu finden, inb. Nicht bei schweren Beschuldigungen
Empirische Untersuchungen zu Täuschungsstrategien stützen diese erfahrungsbasierten Annahmen
Merkmalsorientierte Inhaltsanalyse
Auszug aus Steller und Köhnken (Realkennzeichnung 1989)
Logische Konsistenz
Ungeordnet sprunghafte Darstellung
Detailreichtum
Wiedergabe von Gesprächen
Schilderung von Komplikationen im Handlungsverlauf
Schilderung ausgefallener und/oder nebensächlicher Einzelheiten
Schilderung psychischer Vorgänge
Einwände gegen Richtigkeit der eigenen Aussage
Entlastung des Angeschuldigten
Zentrale Frage:
Könnte Zeuge eine solche Aussage mit dieser spezifischen inhaltlichen Qualität produzieren, ohne dass sie auf einem realen Erlebnis beruht?
Beantwortung der Lügenhypothese
Zu beachten sind personelle Aspekte (Motiv, Täuschungsfähigkeiten, Gedächtnisleistungen, Vorerfahrungen)
Weiteres Kriterium: Konstanz mehrerer Aussagen zu demselben Sachverhalt
Aussage von hoher Qualität und Konstanz gegeben -> Lügenhypothese wird verworfen
Aussage von geringer Qualität und/oder geringe Konstanz gegeben -> Viele Erklärungen möglich, z.b. Ereignis mit geringer Komplexität, mangelnde Aussagebereitschaft, Erinnerungsschwächen, ungünstige Befragung, gezielte Falschaussage
Ggf. dofferenzierte Darlegung in Gutachten erforderlich -> z.b. wenn Konstanz gegeben, Aussagequalität gering, aber kein Motiv erkennbar
Trefferquoten
Rater die merkmalsorientiert Inhaltsanalytische geschult sind: 70%
Laien und ungeschulte Experten (Polizei): 54%
Prozess der Suggestion
1.
Empfänglichkeit für suggestiven Einfluss: Wird nach Details gefragt, an die sich nicht erinnert wird. Evtl. schlechtes, erklärungsbedürftiges psychisches Wohlbefinden
2.
Plausiblitätsschwelle: Es ist plausibel, dass das Ereignis passiert ist und es ist plausibel, dass es zwischenzeitlich nicht erinnert wurde
3.
Generierung einer Ereignisrepräsentation: Wird angeregt durch jede Aufforderung, über das fragliche Ereignis nachzudenken, es sich vorzustellen oder darüber zu sprechen
4. Quellenverwechslung:
Quelle der Erinnerung wird schneller vergessen als Erinnerung selbst. Vertrautheit von Bildern nimmt zu und wird als Bestätigung der Annahme, dass es sich um etwas real Erlebtes handelt aufgefasst
Fremdsuggestion bei Kindern
Bei Kindern werden fremdsuggestive Prozesse häufig durch einseitige Interpretation von Verhaltensweisen (z.b. Einnässen, Schlafstörungen, Zeichnung mit Phallussymbol, etc.) ausgelöst
Belegt, dass kein spezifisches sexuelles Missbrauchssyndrom existiert
Anschließende „Aufdeckungsarbeit“ mit entsprechender Voreinstellung des Befragenden enthält häufig foglende Elemente:
Evtl. auch mit direktem Vorgaben
Bedingungslose Verstärkung erwartungsgemäßer Antworten
Deutung von Schweigen als noch-nicht-bereit-Sein zur Verbalisierung sexueller Missbrauchserfahrung
Ignorieren inkonsistenter Informationen
Dadurch Auslösung von fremdsuggestivem Prozess
Indizien für Fremdsuggestion bei Kindern
Befragender war bereits vor der ersten Aussage von der Tat überzeugt
Keine ergebnisoffene, sondern zielgerichtete Befragung
Kind verneinte Fragen um Sachverhalt zunächst
Erste Äußerung des Kindes zum Sachverhalt erst nach mehreren Befragungen
Konstanz der Aussagen nahm im Laufe der Befragungen zu
Aussage enthält objektiv unmögliche Elemente
Fremd- und Auto-Suggestion bei Jugendlichen und Erwachsenen
Auslöser für Vermutungen bezüglich sexuellem Missbrauch sind häufig psychische Erkrankungen, z.b. Depression oder Angststörung
Autosuggestion verläuft ohne äußeren Anstoß, aber öffentliche Diskussion um Thematik spielt wichtige Rolle
Durch intensive Beschäftigung mit Thema kommt es zur Generierung entsprechender mentaler Bilder
Deutung von Schweigen als Verdrängung und Dissoziation
Indizien für Suggestion bei Jugendlichen und Erwachsenen
Vor Aussage nahm betroffene Person bereits an, dass bislang nicht bekannte Erfahrungen vorliegen müssen
Wurden Bemühungen vorgenommen, sich an nicht zugängliche Erlebnisse zu erinnern
Erinnerungen entstanden erst im Laufe wiederholter Bemühungen
Werden Ereignisse aus den ersten beiden Lebensjahren erinnert
Werden im Laufe der Zeit immer mehr Ereignisse erinnert
Erlebnisbasierte vs. Suggerierte Aussagen
Keine qualitativen Unterschiede
Merkmalsorientierte Inhaltsanalyse nicht sinnvoll einsetzbar
Prüfung der Suggestionshypothese umfasst also keine Prüfung der Aussagequalität sondern eine Rekonstruktion der Aussageentstehung und Aussagegeschichte
Wenn keine bedeutsamen suggestiven Einflüsse erkennbar -> Verwerfen der Sugesstionshypothese
Bei gravierenden fremd- oder autosuggestiven Einflüssen -> keine Möglichkeit der Differenzierung zwischen wahrheitsgemäßer und auf Suggestion beruhender Aussage ->Suggestionshypothese wird beibehalten
Zusammenfassung Methodik
Zu Beginn mit Unwahrannahme als Nullhypothese arbeitet
Informationen über Befragten (z.b. Motivation) werden erhoben
Aussagequalität wird anhand merkmalsorientierter Inhaltsanalyse beurteilt
Aussagentstehung wird bestmöglich rekonstruiert
Bis zur Falsifikation wird jeweilige Nullhypothese beibehalten (Unschuldvermutung)
Zuletzt geändertvor einem Monat