Kriminalprognosen im Strafrecht
Gericht benötigt bei Strafzumessung immer Prognose über Wirkung der Strafe -> i.d.r. treffen Richter Prognose selbst
Sachverständige mit wissenschaftlich fundierter Wahrscheinlichkeitsaussage werden hingezogen bei
Hauptverfahren mit Fragen zu Maßregeln, d.h.
Unterbringung nach §63 StGB (psychisch Erkrankte)
Unterbringung nach §64 StGB (Suchtabhängige)
Sicherungsverwahrung nach §§66 f StGB („Hangtäter“)
Strafvollstreckungsverfahren mit Fragen
Zur Aussetzung von Freiheitsstrafen bei schweren Anlassdelikten
Zur Aussetzung von Maßregeln der Besserung und Sicherung
Anforderungen an Gutachten
Forderungen der Rechtsprechung:
Aufklärung
Der Tatursachen
Entwicklung des Täters im Hinblick auf Tatursachen während des Vollzugs
Darauf basierte Wahrscheinlichkeitsaussage über künftiges Legalverhalten des Verurteilten
Laut „Empfehlungen für Prognosegutachten“ von Boetticher et al. Muss Stellung genommen werden zu folgenden Punkten:
Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten
Art, Schweregraft und Häufigkeit der Straftaten
Geeignete Maßnahmen zur Risikominderung
Umstände, die Risiko steigern würden
-> Eine abstrakte, ausschließlich auf statistische Wahrscheinlichkeiten gestützte Prognose ungenügend!
Zwei methodische Wege:
1. Nomothetischer Ansatz
Auch aktuarischer oder statistischer Ansatz genannt
Nur wenige, leicht erfassbare Merkmale berücksichtigt
Vorteile
Breite empirische Grundlage
Hohe Standardisierung
Kaum menschliche Urteilsfehler
Hohe Transparenz
Nachteile
Genügen nicht den rechtlichen Anforderungen
Rein statisch: Entwicklungen seit Straftat werden i.d.r. nicht berücksichtigt
Diagnostische Hilfsmittel bei nomothetischem Ansatz
Basisraten
Statistische Verfahren
Allgemeine Prognose ((z.B. Offender Group Reoffending Scale–Version 3; OGRS-3)
Gewaltprognose (z.B. Violence-Skala der Risk-Matrix 2000; RM-V)
Sexualprognose (z.B. Sexual-Skala der Risk-Matrix 2000; RM-S)
3rd-Generation Instrumente, welche auch dynamische Faktoren einschließen
Allgemeine Prognose (z.b. Level of Service Inventory- Revised: LSI-R)
Gewaltprognose (z.b. Sexual-Violence-Risk-20, Version 2)
Spezielle Verfahren zur Erfassung relevanter Konstrukte (z.B.
Psychopathy Checklist Revised; PCL-R)
Bei Begutachtung interessant v.a. Rückfälle auf Grundalgen von vorherigen Verurteilungen, insbesondere einschlägige Rückfälle
„Wie häufig wurden Personen, die aufgrund eines Körperverletzungsdelikts verurteilt wurden, erneut (wegen Körperverletzung) verurteilt?“
Nachteil: Systematische Unterschätzung wegen z.b. Dunkelziffer (Studie Jehle et al.: Rpckfalluntersuchung)
Jehle Studie zu rückfall
Offender Group Reoffending Scale- Version 3
OGRS-3 (National Offender Management Service, 2008)
Basiert auf Daten von rund 79000 ehemaligen Strafgefangenen
Items:
Geschlecht
Alter bei Anlasstat
Alter aktuell
Anzahl früherer Verurteilungen
Alter bei erster Verurteilung
Typ des Anlassdelikt
Verarbeitung der Items zu 4 Zahlenwerten auf Basis vorgegebener Algorithmen und gesonderter Tabellen
Verarbeitung der 4 Zahlenwerte zu (1) Wahrscheinlichkeit des Rückfalls innerhalb eines Jahres und (2) Wahrscheinlichkeit des Rückfalls innerhalb von 2 Jahren
Level of Service Inventory- Revised
Deutsche Version des LSI-R von Dahle, Harwardt und Schneider-Njepel (2012)
54 dichotome Items, verteilt auf 10 Risikobereiche
Kriminelle Vorgeschichte
Ausbildung/Erwerbstätigkeit
Finanzielle Situation
Familie/Partnerschaft
Wohnsituation
Freizeitgestaltung
Freundschaften/Bekanntschaften
Alkohol-/Drogenproblematik
Emotionale/Personale Beeinträchtigung
Einstellungen/Orientierungen/Werthaltungen
Für Summenscore liegt Normierung vor
Kann Einstufung in eine von 4 Gruppen mit jeweils spezifischen Rückfallraten für verschiedene Zeiträume, vorgenommen werden
Urteilbildung mit nomothetischem Ansatz
Beachte: Das Ergebnis
Kein Einzelner numerischer Wert (z.b. mit einer Wahrscheinlichkeit von 8% wird es zu einem Rückfall)
Keine subjektive Umschreibung von Wahrscheinlichkeiten (z.b. Wahrscheinlichkeit einer erneuten Straftat ist leicht überdurchschnittlich)
-> Sondern: Einschätzung ob das Risikoniveau des Verurteilten nach oben oder unten von dem statistischen Ausgangsrisiko abweicht
2. Idiografischer Ansatz
Wird auch als explanativer oder „klinischer“ Ansatz bezeichnet
Ziel des Ansatzes:
Individuelle, verhaltensrelevante Gesetzmäßigkeiten sollten erkannt werden
Deren Zusammenhänge mit Straffälligkeit sollen erkannt werden
Deren Entwicklung seit Straftat soll erfasst werden
Deren künftiger Verlauf soll fortgeschrieben werden, um so zur Prognose zu gelangen
Genügt rechtlichen Anforderungen
Berücksichtigt individuelle, dynamische Aspekte
Nur geringfügig standardisierbar
Hoher Aufwand
Vorgehen idiografischer Ansatz
Dahle (2010) entwickelt Vorschlag für systematisches Vorgehen bei idiografischer Beurteilung, das auf 4 Schritten basiert
Begründung einer individuellen Kriminaltheorie
Begründung individuellen Entwicklungstheorie
Kriminalpsychologische IT-Stand-Diagnose
Projektion in Zukunft
Datengrundlage sind
Vollstreckungsheft
Gespräche mit Verurteiltem
Gefangenenpersonalakte
Gesundheitsakte
Evtl. Akten des Hauptverfahrens
Schritte des idiografischen Ansatzes
Schritt 1
Begründung einer individuellen Kriminaltheorie meint
Rekonstruktion der Persönlichkeitsentwicklung
Nachzeichnen personenimmanenter Eigenschaften, wie z.b.
Verhaltensmuster
Denkgewohnheiten
Fähigkeiten
Nachzeichnen des Entwicklungsverlaufs von Straftaten
Ermöglicht die sog. „Tathergangsanalyse“, dh Rekonstruktion von
Evtl. Vorgestalten der Tat (Fantasien, kriminogene Einflüsse)
Umgang mit hemmenden Faktoren
Situationalen Einflüssen
Schritt 2
Begründung einer individuellen Entwicklungstheorie
Meint Erstellen einer individuellen Theorie über die Entwicklung des Verurteilten seit der Tat
Untersucht werden dafür
Änderungen der in Schritt 1 festgestellten Risikofaktoren (z.b. veränderte Attributionsschemata, verbesserte Emotionsregulation)
Entwicklung von Schutzfaktoren (z.b. Aufbau neuer sozialer Bindungen , Verbesserung beruflicher Perspektiven)
Schritte 1 und 2 stellen insgesamt längsschnittliche Diagnostik von Risiko- und Schutzfaktoren dar
Kriminal und Entwicklungstheorie sollten theoriebasiert und hinreichend belegt sein
Schritt 3
Kriminalprognostische IST-Stand-Diagnose
Meint quetschnittliche Diagnose aktuell bestehender Risiko- und Schutzfaktoren (personal/situativ)
Schritt 4
Projektion in die Zukunft
Meint Aufklärung künftiger Lebensperspektiven (Beruf, Finanzen, Wohnumfeld, Partnerschaft)
Daraus werden Wahrscheinlichkeiten des Eintreffens potentieller Risikokonstellationen abgeleitet
Darauf werden Schlussfolgerungen gezogen, mit welchen Maßnahmen das Rückfallrisiko gemindert werden kann, z.b.
Restriktionen
Kontrollen
Hilfen
Opferschutzmöglichkeiten
Zweigleisiges Vorgehen in Praxis
Vor- und Nachteile der beiden Ansätze sind weitgehend komplementär
In Praxis werden daher beide Methoden parallel angewandt und erfolgt integrative Beurteilung
Prognosen durch beide Ansätze übereinstimmend?
-> Ergebnis des Gutachtens eindeutig
Prognose durch beide Ansätze nicht übereinstimmend?
-> Diskrepanzen aufklären
Gliederungsbeispiel für Gutachten
Einleitung (Auftraggeber, Fragestellung, Eckdaten zu Untersuchungen)
Aktenlage
Untersuchungsergebnisse
Psychodiagnostisches Gespräch mit Verurteiltem
Testpsychologische Untersuchungen
Befund
Klinisch-diagnostische Bewertung (im Maßregelvollzug erforderlich, im Strafvollzug umstritten)
Einschätzung auf Basis des nomothetischen Ansatzes
Einschätzung auf Basis des idiografischen Ansatzes
Integrative Beurteilung der Rückfallprognose
Möglichkeiten des Risikomanagements
Beantwortung der Fragestellung
Merke: Aufbau weicht deutlich von den bislang dargestellten Schritten der Begutachtung im Allgemeinen ab!
Zuletzt geändertvor einem Monat