Wie ist die Wissenschaft der Soziologie entstanden?
Im Zuge großer Transformationen, als Produkt tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche (z.B. Industralisierung, Urbanisierung), dem Übergang zur Moderne
Akademische Etablierung: erst ab der 2. Hälfte des 19. jhd
Ziel: Erforschung und Reflexion gesellschaftlichen Wandels
Soziologie prägt Begriffe, Theorien und Denkmuster und wirkt zurück auf Gesellschaften, formt deren Selbstbild
Alain Touraine: Soziologie ist “Träger der Historizität”
= Soziologie als Spiegel der Gesellschaft
Was bedeutet der Begriff der “Moderne”?
„Modern“ erstmals 494 n. Chr. nachgewiesen als Zentrale Unterscheidung: „antiqui“ (die Alten) vs. „moderni“ (die Modernen) - Heute: “modern”
Modern = Gegenwärtig / aktuell gültig
Moderne als Epochenbegriff
Fokus auf das jeweils Zeitgenössische
Modern = Neu vs. Alt
Moderne als Projekt oder Programm
V.a. bei Jürgen Habermas: Idee des Fortschritts und gesellschaftlicher Entwicklung
Modern = Vorübergehend / flüchtig
Moderne als Momentaufnahme
Nach Charles Baudelaire („La modernité“)
Definition: „das Vorübergehende, das Flüchtige, das Kontingente“
Baudelaire bricht mit der Vorstellung eines linearen Fortschritts: Modernität ist Mode + Moment + Ewigkeit in einem
Was ist die “große Transformation” auf der Soziologie beruht?
nach Karl Polanyi ist sie der “Übergang von traditioneller zu moderner Gesellschaft”.
= Wandel v. agrarisch-ländlich/feudal → industriell-städtisch/klassenbasiert
Achtung: Moderne ≠ Fortschritt allein, sondern tiefgreifender sozialer Umbau in Werten, Formen & Strukturen
Wofür ist die Dichotome Gegenüberstellung von Tradition vs. Moderne?
um zu zeigen, wie tiefgreifend sich Gesellschaften im Lauf der großen Transformations verändert haben:
Tradition: Gesellschaft ist „homogen“ = relativ einheitlich – alle leben ähnlich, denken ähnlich, wenig soziale Bewegung
Moderne: Gesellschaft ist „heterogen“ = viele unterschiedl. Lebensstile, Berufe, Ansichten. Menschen wechseln häufiger Lebenssituation oder sozialen Status.
Tradition: Regeln werden direkt durch persönliche Beziehungen kontrolliert – z. B. durch Familie, Dorfälteste oder Kirche.
Moderne: Kontrolle erfolgt indirekt über abstrakte Institutionen – z. B. Gesetze, Polizei, Medien, Bürokratie.
Tradition: Werte sind klar und gelten für alle – meist religiös oder moralisch begründet.
Moderne: Wertevielfalt herrscht – unterschiedliche Gruppen haben verschiedene, manchmal widersprüchliche Werte.
Tradition: Wer du bist (z. B. Sohn eines Schmieds) bestimmt deinen Platz in der Gesellschaft.
Moderne: Deine Position hängt von Deiner Leistung ab – Bildung, Beruf, Engagement zählen.
Tradition: Neuerungen gelten oft als verdächtig oder gefährlich.
Moderne: Innovation ist zentraler Motor des Fortschritts – Forschung, Technik und Effizienz sind gewünscht.
Tradition: Leben auf dem Land, Selbstversorgung, Landwirtschaft.
Moderne: Leben in Städten, Arbeit in Fabriken oder Büros, Industrialisierung.
Tradition: Enge persönliche Beziehungen, z. B. Familie oder Nachbarschaft.
Moderne: Anonyme Beziehungen, vermittelt durch Organisationen (z. B. Arbeitgeber, Behörden).
Tradition: Macht wird durch persönliche Autorität und Tradition begründet („der König hat immer geherrscht“).
Moderne: Macht basiert auf Regeln und Gesetzen – legitim durch Bürokratie und Verfassung.
Tradition: Kaum organisierte lokale/ spontane Interessenvertretung, meist durch persönliche Einflussnahme
Moderne: Parteien, Gewerkschaften, NGOs – Menschen organisieren sich bewusst und strategisch.
Tradition: Konflikte werden unterdrückt oder mit Gewalt gelöst; Kommunikation ist persönlich und direkt.
Moderne: formale Mechanismen zur Konfliktlösung (z. B. Gerichte), Kommunikation erfolgt oft über Medien.
Wichtig: hilft zu verstehen, was sich mit der Moderne alles verändert hat – es geht nicht nur um Technik oder Städte, sondern um das gesamte Denken, Fühlen und Zusammenleben.
Aber Achtung: Das ist ein Idealtypus (also ein theoretisches Modell). In der Realität gibt es viele Mischformen – z. B. moderne Technik mit traditionellen Familienstrukturen.
Was sind die drei Revolutionen der Moderne?
Moderne Gesellschaften sind nicht durch ein einziges Ereigenis, sondern durch einen dreifachen, tiefgreifenden Wandel in drei verschiedenen Bereichen: Ökonomie, Politik und Kultur geschehen – und das jeweils in unterschiedlichen Ländern:
🔧 1. Ökonomische Revolution – England (ab ca. 1750)
Stichwort: Industrialisierung und Kapitalismus
Dampfmaschine & technischer Fortschritt treiben Produktion an
Landreformen führen dazu, dass Landarbeiter arbeitslos werden → sie wandern in die Städte → werden zu Industriearbeitern (Proletarier)
Kapital und Arbeit trennen sich: Nicht mehr in einem Haushalt vereint, sondern:
Kapital = Besitzende
Arbeit = Lohnabhängige
= Arbeitsmarkt & Kapitalmarkt entstehen
Fabrik ersetzt Manufaktur, die Produktion wird rationalisiert
Rechtssystem wird angepasst: Eigentum, Verträge, Berechenbarkeit → alles rechtlich abgesichert durch den Rechtsstaat
🎯 Fazit: Industrialisierung verändert nicht nur wie produziert wird, sondern auch wie Menschen leben (von ländlich zu städtisch), arbeiten und wirtschaftlich organisiert sind.
🏛️ 2. Politische Revolution – Frankreich (ab fra. Revol. 1789)
Stichwort: Demokratisierung
Abschaffung der Monarchie und Aristokratie → Republik entsteht
Menschen werden souveräne Bürger statt Untertanen
Politik wird öffentlich, nicht mehr elitär und geheim
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit setzen sich durch
Gesellschaft gliedert sich weiterhin in Klassen (z. B. Arm/Reich), aber alle haben theoretisch gleiche Rechte
Der Staat ≠ Machtinstrument , sondern = demokratischer Ordnungsrahmen
🎯 Fazit: Gesellschaft politisiert sich. Demokratie wird eingeführt, Bürger bekommen Rechte, und Staat wandelt sich zur Institution der Mitbestimmung.
🎨 3. Kulturelle Revolution – Deutschland (18./19. Jhd) Stichwort: Individualisierung durch: Aufklärung, Reformation, Renaissance
Wissen, Bildung, Moral werden wichtig:
„Sapere aude“ – Habe Mut, deinen eigenen Verstand zu benutzen (Aufklärung)
Kategorischer Imperativ – Handle so, dass dein Handeln allgemeines Gesetz sein könnte (Kant)
„Werde, der du bist“ – Idee der Selbstverwirklichung (Goethe, z. B. Wilhelm Meisters Lehrjahre)
Individuum wird zentral: nicht mehr die Gemeinschaft oder der Stand bestimmt das Leben, sondern der Einzelne
Kultur verändert sich in drei Bereichen:
kognitiv → Wissenschaft & Bildung
Der Mensch denkt selbstständig – Wissen wird nicht mehr nur von Kirche oder Adel vorgegeben.
moralisch-ethisch → neue Moral (Kants Ethik: Jeder Mensch ist Zweck an sich, nie nur Mittel zum Zweck → Menschenwürde.)
Freiheit des Einzelnen wird zur Grundlage von Ethik, Moral wird nicht mehr religiös begründet, sondern durch Vernunft.
ästhetisch-expressiv → Kunst, Literatur, Identitätssuche
Kunst wird Ausdruck des Inneren, der Persönlichkeit, des Gefühlslebens.
Literatur und Kunst fragen: Wer bin ich? Wie finde ich zu mir selbst?
z.B. Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ = Roman über Selbstfindung: Protagonist bricht aus vorgegebenen Welt aus, um „zu sich selbst“ zu finden.→ typisch für ästhetische Dimension der kulturellen Moderne.
🎯 Fazit: kulturelle Revolution schafft das geistige Fundament der Moderne. Das Individuum wird zum Zentrum – mit eigenen Rechten, eigener Moral, eigener Identität.
Was ist die soziologische Zeitdiagnose?
Ein Versuch, die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen und zu deuten.
= Strukturen und Entwicklungen, die eine ganze Epoche oder Gesellschaft prägen. Dabei fasst man komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge in einem prägnanten Begriff zusammen, z. B.:
Kapitalismus,
Narzissmus,
Postmoderne,
Amerikanismus,
Wilhelminismus etc.
Diese Begriffe stehen dann oft stellvertretend für ein ganzes Weltbild oder Lebensgefühl.
Was sind die 4 Funktionen von Zeitdiagnose?
Was gibt mir Halt? Struktur von Wahrnehmung der Gegenwart, um sich selbst und die Welt einzuordnen.
Wann lebe ich? (z. B. Postmoderne)
Wo lebe ich? (Kapitalismus)
Wie lebe ich? (Amerikanische Konsumkultur)
Als was lebe ich? (Narzisstische Persönlichkeit)
📌 Code: natürlich/unnatürlich 📌 Ziel: ontologische Sicherheit (also: sich in der Welt verortet fühlen)
Was ist wirklich los? = wissenschaftliche und evidenzbasierte Analysen zur Erklärung gellschaftlicher Entwicklungen.
= warum Dinge so sind, wie sie sind – und was das bedeutet.
💬 = fundierte Erklärungsmodelle. 📌 Code: wahr/falsch 📌 Ziel: intersubjektiv überprüfbare Erkenntnis
Wie fühlt sich unsere Zeit an? = Lebensgefühl einer Epoche – den „Zeitgeist“. -> Stimmung, Atmosphäre, intuitive Wahrneh.
💬 Beispiel: „Wir leben in der Postmoderne“ → Gefühl von Unsicherheit, Pluralität, Sinnverlust. 📌 Code: authentisch/unauthentisch 📌 Ziel: Erfassung des Zeitgeistes
Ist das gut oder schlecht? Bewertung gesellschaftlicher Entwicklungen – auf Grundlage idealen Maßstabs (z. B. Aufklärung, Menschenwürde, Demokratie). ➡ schlagen Alarm, wenn Realität davon abweicht.
💬 Oft = Krisendiagnose und rufen zur Umkehr oder Kurskorrektur auf. 📌 Code: gut/schlecht 📌 Ziel: Beurteilung gesellschaftlicher Entwicklung
Als Tabelle:
Funktion
Bedeutung (einfach)
Ziel
Beispiel
Konstitutiv
Gefühl, wo und wann wir leben, ordnet die Welt.
Orientierung, „Weltbild“
Ich lebe in einer kapitalistischen Gesellschaft
Kognitiv
Liefert wissenschaftliche Erklärungen und Begriffe.
Erkenntnis, Wissen
Studien zeigen, dass Individualismus steigt
Expressiv
Drückt „Zeitgeist“ oder Lebensgefühl aus.
Stimmung & Atmosphäre
Postmoderne fühlt sich verwirrend und vielfältig an
Evaluativ
Bewertet Entwicklungen: gut oder schlecht? Krise oder Fortschritt?
Kritik, Handlungsimpuls
Gesellschaft ist zu narzisstisch geworden – wir brauchen Umkehr
Was sind die 3 zentralen Probleme der soziologischen Zeitdiagnostik?
🧠 1. Das Problem der Adäquanz:
Ist der gewählte Begriff geeignet, eine ganze Epoche, Gesellschaft, Kultur etc. angemessen zu erfassen?
Überdehnung eines Begriffs (z. B. „alles ist kapitalistisch“) führt zu unrealistischer Generalisierung.
Unterbestimmung bleibt analytisch unergiebig – die Diagnose bleibt vage.
Kernfrage: Ist ein Struktur-/Entwicklungsprozess nur relevant oder bereits dominant?
👓 2. Das Problem des modischen Zeitgeistes und der Ideologie
Fehlendes Verhältnis von theoretischer Begriffsbildung und historisch-empirischer Analyse, wodurch Soziale Realität durch Diagnose beeinflusst wird (=Performativität von Zeitdiagnosen).
Schnellschussdiagnostik (unterbestimmt): unreflektierte Trends durch Medien, Werbung, Konsumindustrie —> empirisch schwach, aber wirkungsmächtig.
Ideologische Begriffsakrobatik (überdehnt): Theorien halten an revolutionären Deutungen fest, obwohl empirisch keine Hinweise mehr darauf existieren (z. B. Zusammenbruch des Kapitalismus).
Gütekriterium: Solidität und Ausgewogenheit zwischen Theorie und Empirie.
3. Das Problem des Normativen
Darf Soziologie normative Empfehlungen geben oder nur empirisch-deskriptiv analysieren?
= Gefahr: Soziologie verwischt die Grenze zur Sozialphilosophie.
Kritik: Zeitdiagnosen beinhalten oft normative Implikationen („Kritik“ plus „Alternative“) → Anspruch auf Veränderung.
Spannung: Bestandsaufnahme vs. Kritik – ist beides gleichzeitig möglich?
Lösungsvorschlag: Anerkennung der beschränkten Haftung der Zeitdiagnose – eine wissenschaftlich kontrollierte, aber letztlich nicht spekulationsfreie Synthese.
Gütekriterium: Intersubjektiv prüfbares Verhältnis von Analyse und Wertung.
Aspekt
Beschreibung
Erfahrbarkeit
Gesellschaft ist nicht abbildbar – es gibt nur Gesellschaftsbilder, nie die Gesellschaft selbst.
Evaluierbarkeit
Zeitdiagnosen können besser oder schlechter „gelingen“, wie Fotografien aus verschiedenen Winkeln.
Timing
Zu frühe Diagnosen → unbeachtet, zu späte → irrelevant; „Just in time“ ist ideal.
Wissenschaftliche Kontrolle
Evidenzbasierung hilft, Metaphysizität zu bändigen, ersetzt sie aber nicht.
Relevanz für Gesellschaft
Zeitdiagnose trifft den Nerv der Zeit, wenn sie kollektive Seelenlage erfasst.
NICHT KLAUSURRELEVANT ABER DENNOCH INTERESSANT:
Alexis de Tocqueville (1805–1859) war ein französischer Aristokrat und politischer Denker, der in einer Zeit massiver Umbrüche lebte. Seine Biografie spiegelt die Spannungen zwischen Tradition und Moderne wider. Geboren in eine Adelsfamilie, die unter der Französischen Revolution litt, studierte er Jura und schlug zunächst eine politische Laufbahn ein. Berühmt wurde er jedoch durch seine Reise in die USA (1831–1832), die ihn zu seiner bahnbrechenden Analyse der Demokratie inspirierte. Sein Werk Über die Demokratie in Amerika (1835/1840) gilt als eine der wichtigsten soziologischen Zeitdiagnosen des 19. Jahrhunderts.
In Deutschland wird Tocqueville kaum als Soziologe anerkannt.
In wichtigen Werken zur Geschichte der Soziologie fehlt er völlig.
Tocqueville analysiert nicht nur Geschichte, sondern die tiefere Struktur moderner Gesellschaften.
Gründe für seine Vernachlässigung in Deutschland:
Konkurrenz durch Marx und Weber
Tocqueville schreibt klar und literarisch - In Deutschland wird komplizierter, „unverständlicher“ Stil oft mit Wissenschaftlichkeit gleichgesetzt.
Seine Sichtweisen:
Demokratie führt zu Angleichung der Lebensstandards und Ähnlichkeit der Lebensweise.
Mit dieser Gleichheit geht ein praktischer Materialismus einher: Fokus auf Besitz, Reichtum, Konsum.
Es entsteht Individualismus, der sich in Rückzug ins Private und Egoismus äußert.
Diese Tendenzen sind unvermeidliche Risiken moderner Demokratien
Gefahren der Demokratie:
Despotismus entsteht, wenn:
Bürger sich ausschließlich privaten Interessen widmen.
Öffentliche Tugenden und politisches Engagement verloren gehen.
Materielle Unsicherheit erzeugt ständigen Wettbewerb um Reichtum.
Diese Dynamik erzeugt:
Gier nach Geld,
Leidenschaft für Genuss und Konsum,
Rückzug in den Individualismus.
Politische Freiheit bedeutet:
Schutz vor Willkür: Rechtlicher Schutz gegenüber Staat und Gesellschaft.
Individuelle Gestaltungsfreiheit: Privatsphäre und Autonomie im Alltag.
Recht auf politische Teilhabe: Politische Mitbestimmung als Wesenskern echter Demokratie.
Freiheit als politische Tugend:
Gesellschaftliches Engagement,
Aufgabe des rein privaten Glücksstrebens,
Solidarität durch öffentliches Handeln.
Rolle der Politischen Freiheit:
Ausgleichsfunktion: Gegenpol zur nivellierenden Wirkung von Gleichheit.
Korrektivfunktion I: Begrenzung des egoistischen Individualismus.
Korrektivfunktion II: Begrenzung der demokratischen Staatsmacht.
Scheidungsfunktion: Trennung von Individualismus und staatlichem Despotismus.
Tocqueville ist begeistert von der Entwicklung in den USA: Demokratie, Gleichheit und Freiheit bilden dort eine erfolgreiche Einheit.
In Frankreich dagegen sieht er ein Scheitern: Demokratie und Gleichheit verbinden sich hier mit politischer Unfreiheit und Despotismus.
Tocqueville will keine bloße Geschichtsschreibung der Revolution liefern, sondern eine strukturell-gesellschaftliche Erklärung.
Er folgt methodisch Montesquieu und nutzt ein umfangreiches Quellenstudium – Frankreich, Deutschland, England – um das „Testament der alten Gesellschaft“ zu rekonstruieren.
Zentralisierungsthese: politische und administrative Machtzentralisierung Frankreichs (mit Paris als Zentrum) stellt die Kontinuitätsbrücke zwischen Ancien Régime und Moderne dar.
Die Revolution war weniger ein Bruch als vielmehr eine Fortsetzung alter Strukturen unter neuen Vorzeichen.
Revolution trägt einen religiösen Charakter – eine säkulare Religion mit Propheten, Märtyrern, Ritualen (z. B. 14. Juli als Nationalfeiertag).
Die Kirche wird nicht primär als religiöse Institution, sondern als Teil des Ancien Régime bekämpft.
Revolutionäre Umstrukturierung Frankreichs 1789 wirkt radikal – war aber Endpunkt eines langen Zentralisierungsprozesses
Tocqueville: Alte Provinzen wurden wie „Tote“ zerteilt – scheinbar lebendige Strukturen waren in Wirklichkeit längst machtlos.
Der königliche Rat (conseil du roi): Höchster Gerichtshof -> Machtfülle ohne Autonomie, weil Mitglieder Abhängig von der Gunst des Königs
-> Trennung von symbolischer Repräsentation und faktischer Macht
Klassenanalyse bei Tocqueville
Der Staat:
Konfliktschlichtungsinstanz und gleichzeitig
Verstärker der Klassenantagonismen
Klassenanalyse als zentraler Bestandteil der Revolutionserklärung
Tocquevilles Leitsatz: „Ich spreche von Klassen, sie allein dürfen die Geschichte beschäftigen.“
Klassen nicht theoretisch definiert (wie bei Marx), sondern historisch-empirisch betrachtet
Nicht Individuen, sondern Klassen als Träger des historischen Wandels
Spannungen zwischen Adel und Bourgeoisie
Alte Aristokratie vs. neureiche Bourgeoisie:
Adel verachtet die neureichen „Emporkömmlinge“
Bourgeoisie sieht sich als neue Aristokratie des Kapitals
Tocqueville: „Nie war der Adel so leicht zu kaufen wie 1789.“
Bürger und Adel unterschieden sich am Vorabend der Französischen Revolution primär durch rechtliche Ungleichheit und verschiedene Ehrbegriffe.
Laut Tocqueville ähnelten sich Bürger und Adel in Erziehung, Bildung, Ansichten, Gewohnheiten, Vergnügungen, Sprache, und gelesenen Büchern.
Bauern waren bereits Eigentümer kleiner Parzellen, aber litten unter feudalen Lasten und der fiskalischen Ausbeutung durch den Staat.
Ihre Isolation: am stärksten von der Zentralgewalt betroffen, aber kaum organisiert oder politisch aktiv.
Tocqueville beschreibt das ländliche Leben als von Armut, Unwissenheit und administrativer Vernachlässigung geprägt.
Strategien der Klassen am Vorabend der Revolution:
Adel: defensiv, Bewahrung der Privilegien ohne Machtanspruch.
Bürgertum: offensiv, strebt nach Reichtum und Anerkennung.
Arbeiter: hoffen auf staatliche Hilfe gegen die Bourgeoisie.
Bauern: passiv, ohne Privilegien oder politische Stimme.
= Tocquevilles Diagnose: „kollektiver Individualismus“
Begriff meint: Obwohl niemand vollkommen individuell war, dachten alle kleinen gesellschaftlichen Gruppen nur an sich selbst.
Mögliche Ursachen für den Ausbruch der Französischen Revolution:
Äußere Bedrohung (Krieg): Trotz zahlreicher Kriege unter Ludwig XIV. kam es nicht zum Zusammenbruch; der Krieg hätte nur für das postrevolutionäre Frankreich mehr Bedeutung.
Materielle Interessen der Klassen: Tocqueville verneint diese Möglichkeit, da die Klassen zu sehr mit ihren eigenen Interessen beschäftigt sind, ohne revolutionäre Kraft zu entwickeln.
Ideen als Schlüsselursache: Die Ideen von 1789 (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) sind entscheidend. Diese Ideen wurden von Intellektuellen getragen, die sie in der Öffentlichkeit verbreiteten.
Crise heureuse“ und ihre Bedeutung:
Tocqueville spricht von einer "glücklichen Krise" zu Beginn der Regierungszeit Ludwig XVI., in der es eine Phase des wirtschaftlichen Wachstums und Wohlstands gab.
Diese Phase führte zu einer paradoxen Situation, in der der Wohlstand das politische Unbehagen und den revolutionären Aufbruch verstärkte.
= Tocqueville beschreibt dies als ein Paradoxon der Reform: Nicht die größte Unterdrückung, sondern eine Phase relativer Lockerung bringt das System ins Wanken. Wenn sich die Verhältnisse verbessern, wachsen die Erwartungen – bleibt die Verbesserung jedoch begrenzt, wandelt sich Hoffnung in Empörung. Dieses Phänomen erinnert an die berühmte Formel: Revolutionen entstehen nicht in Zeiten der Not, sondern in Momenten enttäuschter Hoffnung.
Auswirkungen der Demokratie auf die geistige und soziale Lebensweise der Menschen
Amerikaner wenig Interesse an abstrakter Philosophie, Tocqueville erklärt, dass diese Denkweise das Fundament für die amerikanische Vorstellung von Selbstverwirklichung bildet. In einer Gesellschaft, in der alles möglich ist, solange man genug Willen und Disziplin aufbringt, ist der Glaube an die eigene Vervollkommnung tief verwurzelt. Diese „can do“-Mentalität treibt die Amerikaner an, immer weiter zu streben, ohne sich von Misserfolgen entmutigen zu lassen. Es entsteht eine Kultur des unaufhörlichen Fortschritts,
Tocqueville sieht die Demokratie als eine Gesellschaftsform, die den Individualismus fördert und die Vorstellung von Gleichheit und Freiheit vertieft.
Gleichzeitig warnt er jedoch vor den Gefahren, die mit einer allzu weit getriebenen Demokratisierung und der Entwicklung des Individualismus einhergehen. Dies könnte zu einer sozialen Zersplitterung führen, in der die Menschen sich immer mehr isolieren und die gemeinschaftlichen Bindungen schwinden. In einer solchen Gesellschaft besteht die Gefahr, dass die Menschen in ihrer eigenen Einsamkeit versinken und die öffentlichen Tugenden verkümmern.
Tocqueville schließt seine Überlegungen mit einer Prognose über die Zukunft der Demokratie und ihre Auswirkung auf die globale Gesellschaft. Die Vereinigten Staaten von Amerika erscheinen ihm dabei als Modell für die Entwicklung demokratischer Gesellschaften weltweit.
Wer war Karl Marx?
Geboren: 5. Mai 1818, Trier, Deutschland
Philosoph, Ökonom, Sozialwissenschaftler, Journalist und Begründer des Marxismus, einer der einflussreichsten Denker der Sozialwissenschaften
Kernthese: Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen (Unterdrücker vs. Unterdrückte)
Basiert auf: Kommunistische Manifest - Karl Marx u. Friedrich Engels 1848
Ziel: Aufruf zur Revolution und Stärkung der Arbeiterbewegung
Welche Klassen im Kommunistischen Manifests Marx/Engels gab es und wieso hatten sie einen Kampf?
Klassen im kommunistischen Manifest:
Bourgeoisie: Kapitalisten, die Produktionsmittel besitzen
Historische Bedeutung: Zerstörung alter feudal-ständischer Verhältnisse
Fortschritte: Technologische Revolution, Entwicklung des Weltmarkts
Ergebnis: Schaffung einer globalen Zivilisation, aber auch eine zunehmend instabile Gesellschaft
Proletariat: Arbeiterklasse, die ihre Arbeitskraft verkauft
wird durch seine Unterdrückung zur revolutionären Kraft
Ziel: proletarische Revolution soll Klassengesellschaft abschaffen und eine humane Gesellschaft schaffen
Warum: Wachsende Ausbeutung, politische Organisation und Klassenbewusstsein
Antagonismus: Der Kampf zwischen diesen beiden Klassen bildet das Fundament der Gesellschaft
Ursachen des Klassenkampfs: fortwährende Ausbeutung der Arbeiter durch die Bourgeoisie
Folge: -> Zunehmende Entfremdung und Verelendung der Arbeiterklasse
-> Klassenkampf wird intensiver, bis er in einer Revolution gipfelt
Was prognostizierten Marx und Engels in ihrem Manifest?
Der Fortschritt der Produktivkräfte untergräbt die wirtschaftliche Basis der Bourgeoisie, wodurch Untergang der Bourgeoisie unvermeidlich ist und das Proletariat triumphieren wird
= Bourgeoisie produziert ihre eigenen Totengräber – das Proletariat
Was sind die 4 vier Merkmale der proletarischen Revolution nach Marx/ Engels und was ist das Ziel dieser?
Wachsende Ausbeutung: Arbeiter leiden unter schlechteren Arbeitsbedingungen
Wachstum des Proletariats: Zunahme der Zahl der Arbeiterklasse
Politische Organisation: Der Klassenkampf wird politisiert und organisiert
Verstärkter Klassenkampf: Konflikte zwischen Bourgeoisie und Proletariat intensivieren sich
Ziel: Die “Letzte Revolution”
Die Abschaffung der Klassengesellschaft
Neue brüderliche, solidarische Gesellschaft, die keine Klassen mehr kennt
Die proletarische Revolution ist die „erste und letzte“ Revolution, die zu einem humanen, sozialistischen System führt
Was ist Marx’ Praxisphilosophisches Grundmodell?
Modell, das auf der Idee basiert, dass die Wirklichkeit des Menschen und der Gesellschaft nicht durch abstrakte Gedanken oder Ideologien erklärt werden kann, sondern durch die praktische Tätigkeit der Menschen, besonders in der Arbeit und Produktion.
Grundsatz: Der Mensch ist ein praktisches, gesellschaftliches Wesen
Mensch = Wesen mit ganzheitlicher Natur, das durch praktische Arbeit und kreative Tätigkeiten seine Erfüllung finden möchte. Arbeit ist für ihn eine Form der Selbstverwirklichung, die es den Menschen erlaubt, ihre Fähigkeiten zu entfalten und ihre Bedürfnisse zu befriedigen.
Tätigkeit ist immer gesellschaftlich, da der Mensch nie allein lebt, sondern immer in Beziehungen zu anderen Menschen und innerhalb einer Gesellschaft steht.
= Mensch ist immer von gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig und bestimmt diese gleichzeitig durch seine Tätigkeiten.
Was ist nach Marx’ Praxisphilosophischem Grundmodell eine “Praxis”?
praktische, handlungsbezogene Tätigkeit der Menschen in der Welt, vor allem in Bezug auf die Produktion (Arbeit).
Marx sieht die materielle Praxis als entscheidend an, da der Mensch seine Welt durch seine Arbeit verändert.
Achtung: er unterscheidet sich hier von vielen früheren Philosophen (z. B. Hegel oder Feuerbach), die die Realität und das menschliche Wesen eher abstrakt und theoretisch betrachteten.
Marx kritisiert Hegel und dessen Vorstellung, dass die Geschichte des Menschen vom Geist und dessen Entwicklung bestimmt wird. Hegel sah die preußische Monarchie als eine Art „endgültigen“ Zustand der Vernunft.
er lehnt dies ab und betont, dass die realen, materiellen Verhältnisse die Basis für gesellschaftliche Veränderungen sind.
Marx übernimmt von Feuerbach die Idee, dass der Mensch als Teil der Natur zu verstehen ist. Doch Marx geht über Feuerbach hinaus, indem er die Praxis und gesellschaftliche Verhältnisse als die entscheidenden Faktoren für das menschliche Leben sieht.
und übernimmt die dialektische Methode von Hegel, die von einem Wechselspiel von Widersprüchen ausgeht. Diese Widersprüche führen zu Veränderungen und Entwicklungen in der Geschichte.
Der historische Prozess folgt nicht einem linearen Verlauf, sondern verläuft in Sprüngen, die durch Konflikte, Krisen und Revolutionen geprägt sind.
Während Hegel diese Dialektik als einen idealistischen Prozess sah (also als einen Prozess des Geistes), nutzt Marx diese Methode, um die realen, materiellen Verhältnisse in der Gesellschaft zu analysieren.
Was ist in Marx’ Praxisphilosophischem Grundmodell die “Entfremdung”?
Prozess, durch den der Mensch sich selbst, seine Arbeit und seine Beziehungen entfremdet.
Entfremdung vom Produkt: Arbeiter verliert Kontrolle über das Produkt seiner Arbeit = Produkt wird selbstständiges Ding, das Macht über den Arbeiter ausübt.
Entfremdung von der Arbeit: Arbeit wird zu bloßen Routine, die dem Arbeiter Kreativität und Selbstverwirklichung nimmt. Arbeiter sieht Arbeit nicht mehr als Teil seines Lebens, sondern als Verpflichtung.
Entfremdung von anderen Menschen: Arbeitsteilung und soziale Hierarchien führen zu Verhältnissen der Isolation und Entfremdung zwischen den Menschen (z.B. Stadt-Land oder geistige vs. körperliche Arbeit).
Entfremdung vom „Gattungswesen“: = das wahre, freie Wesen des Menschen. Marx sieht den Menschen als ein Wesen, das sich durch die freie Entfaltung seiner Fähigkeiten und die Zusammenarbeit mit anderen auszeichnet. Entfremdung entsteht, wenn diese Fähigkeiten nicht ausgelebt werden können.
Revolution muss die sozialen Verhältnisse (basierend auf materiellen Produktionsverhältnissen) ändern, damit Menschen Entfremdung überwinden und zu ihrer wahren menschlichen Natur zurückfinden können.
Achtung: kapitalistisches Ausbeutungssystem: Im Kapitalismus sind Menschen gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das bedeutet, sie tauschen ihre freiwillige und kreative Arbeit gegen Geld und sind dabei nicht mehr frei, die Art der Arbeit zu wählen, die sie wirklich erfüllt oder die mit ihren wahren Bedürfnissen übereinstimmt. = Entfremdung
Freiheit durch die Revolution: Marx meint, dass die einzige Möglichkeit, diese Entfremdung zu überwinden, in einer revolutionären Veränderung des kapitalistischen Systems besteht.
Wenn sich Produktionsverhältnisse ändern, verändert sich auch gesamte Gesellschaft, denn lt. Marx bestimmt die Art und Weise, wie Menschen ihre Lebensgrundlagen produzieren, die sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Verhältnisse, weil
“Was die Menschen sind, hängt direkt davon ab, wie und was sie produzieren.”
Was sind die 7 Punkte Marx‘ materialistische Geschichtsauffassung?
Materielle Lebensverhältnisse als Grundlage: Sie sind der Stoff des gesellschaftlichen Verkehrs und die Grundlage der politischen Ökonomie im Kapitalismus.
Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse: Die Produktivkräfte (Technologie und Fähigkeiten der Produzenten) bestimmen die gesellschaftliche Entwicklung, während Produktionsverhältnisse die Eigentumsverhältnisse und gesellschaftlichen Beziehungen beschreiben.
Basis-Überbau-Dialektik: Das gesellschaftliche Sein (die ökonomische Basis) bestimmt das Bewusstsein (den Überbau), aber der Überbau beeinflusst, wie die Gesellschaft sich selbst begreift.
Widerspruch zwischen Basis und Überbau: Der Konflikt tritt auf, wenn die Produktionsverhältnisse nicht mit der Entwicklung der Produktivkräfte Schritt halten und zu einer „Fessel“ werden.
Revolutionärer Konflikt: Der Widerspruch führt zu einem offenen Konflikt, der eine soziale Revolution einleitet, mit dem Ziel eines neuen „Gleichgewichts“ zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.
Voraussetzungen für revolutionäre Veränderung: Eine neue Gesellschaftsformation entsteht nur, wenn die Bedingungen in der alten Gesellschaft ausgebildet sind, = die Produktivkräfte für neue Produktionsweise geschaffen sind, z.B. im Kapitalismus für den Übergang zum Sozialismus.
Entwicklung von Produktionsweisen: Marx unterscheidet verschiedene Produktionsweisen (asiatisch, antik, feudal, bürgerlich) und sieht sie als Abfolge von Gesellschaftsformationen, die die Vorgeschichte der Menschheit darstellen, die in der kommunistischen Gesellschaft kulminiert.
Einordnung von Produktionsweisen: asiatische Produktionsweise könnte parallel zur antiken existieren, nicht zwingend davor.
Teleologie: Vorstellung, dass die Geschichte zwangsläufig in die kommunistische Gesellschaft führt, erinnert an Hegels Weltgeist und wird als problematisch angesehen.
Harmonische Eintracht: Die Vorstellung eines Endes der Geschichte, in dem alle gesellschaftlichen Gegensätze aufgehoben sind, wird als unhaltbar und teleologisch kritisiert.
Vergleich mit der christlichen Heilslehre: Die Entwicklung zur sozialistischen Gesellschaft wird als ähnlich zur christlichen Vorstellung von Erlösung und „Paradies“ gesehen, was den Historischen Materialismus als evolutionistisch entlarvt.
Was besagt die Strukturtheoretische Analyse über Kapitalismus und Ausbeutung (nach Marx)?
sie besagt, dass Kapitalismus systematisch Ausbeutung erzeugt, indem der Mehrwert der gemeinschaftlich produzierten Arbeit privat von Kapitalbesitzern angeeignet wird.
und stellt damit Kritik an der Politischen Ökonomie in Gestalt der Kapitalproduktion und -verwertung dar
= Herzstück der Marxschen Theorie
Zentrale Kritik von Marxs war:
kapitalistische Produktionsweise sind gesellschaftlich spezifisch und nicht natürlich.
Kapitalismus wird durch Ideologien als alternativlos dargestellt – Marx zeigt, dass er historisch entstanden und veränderbar ist.
bürgerliche Ökonomie (auch: klassische Nationalökonomie), die die kapitalistischen Verhältnisse nicht hinterfragt, sondern als natürlich und gegeben darstellt, beschreibt Phänomene wie Lohn, Profit und Kapital, ohne ihre historischen und gesellschaftlichen Ursachen – insbesondere Ausbeutung – zu analysieren oder zu kritisieren. = nach Marx eine ideologische Verkehrung
Ausgangssituation Marx’ Analyse des Kapitalismus:
Gesellschaft als Warensammlung: Die moderne kapitalistische Gesellschaft besteht laut Marx aus einer „ungeheuren Warensammlung“ – fast alles wird zur Ware.
Alle Waren sind Produkte menschlicher Arbeit und haben 2 Seiten:
Gebrauchswert: Nützlichkeit.
Tauschwert: Verhältnis zu anderen Waren (z. B. 1 Jacke = 2 Paar Schuhe).
Arbeitsbegriff nach Marx: Wert einer Ware ergibt sich aus durchschnittlicher Arbeitszeit, die unter normalen Produktionsbedingungen erforderlich ist.
Konkrete Arbeit: Tätigkeit, die einen Gebrauchswert schafft (z. B. Tischlern, Backen, Nähen).
Abstrakte Arbeit: Arbeitszeit im Allgemeinen, die den Wert der Ware bestimmt, und nicht um den individuellen Beitrag eines Arbeiters.
Geld, Preis, Kapital
Geld = allgemeines Tauschmittel und Ausdruck des Tauschwerts – es ist selbst eine Ware.
Preis = Geldform des Wertes einer Ware.
Kapital = entsteht, wenn Geld mit dem Ziel investiert wird, mehr Geld zu erzeugen (z. B. durch Kauf von Arbeitskraft und Produktionsmitteln).
Nur lebendige Arbeit erzeugt Mehrwert (m) →
Unterscheidung von Kapitalbestandteilen:
Konstantes Kapital (c): Maschinen, Rohstoffe – schafft keinen neuen Wert.
Variables Kapital (v): Löhne für Arbeitskraft – einzige Quelle neuen Werts.
Formel: Wert = c + v + m
Arbeitskraft = alle körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Arbeiters.
Kapitalist kauft Arbeitskraft – sie allein hat die Fähigkeit, Mehrwert zu erzeugen.
Sie wird auf dem Markt scheinbar „fair“ verkauft – Lohn gegen Arbeitszeit.
Tatsächlich entsteht Mehrwert, da die Arbeitskraft mehr produziert, als sie an Lohn kostet. = unbezahlte Mehrarbeit -> Strukturelle Ausbeutung im Kapitalismus
Formen der Mehrwertproduktion durch Kapitalisten:
Absoluter Mehrwert: Verlängerung des Arbeitstags – mehr Stunden = mehr Mehrwert.
Relativer Mehrwert: Erhöhung der Produktivität – die notwendige Arbeitszeit wird durch technische Mittel (z. B. Maschinen) gesenkt, sodass ein größerer Teil des Arbeitstags unbezahlt bleibt.
Methoden: Rationalisierung, Pausenverkürzung, erhöhte Arbeitsintensität – oft auf Kosten besonders verletzlicher Gruppen (z. B. Frauen, Kinder).
Auswirkung auf ArbeiterInnen:
Technologischer Fortschritt führt zu Arbeitslosigkeit → wachsende industrielle Reservearmee.
Reservearmee sorgt für Lohndruck, Unsicherheit, soziale Spannungen
-> Löhne sinken, obwohl Produktivität steigt → Arbeiter:innen können eigene Produkte nicht kaufen.
Widersprüche der Kapitalzusammensetzung:
Investition in Maschinen (c ↑) erhöht zwar kurzfristig die Produktivität und damit den Mehrwert. Gleichzeitig sinkt der Anteil lebendiger Arbeit (v ↓) → langfristig weniger Quelle für neuen Wert.
Folge: Tendenzieller Fall der Profitrate trotz wachsender Produktion.
Systemischer Grundwiderspruch: Gesellschaftliche Produktion (viele arbeiten zusammen) steht im Widerspruch zur privaten Aneignung (nur wenige – Kapitalbesitzer – eignen sich den Mehrwert an).
Folge: Überproduktion (zu viele Waren) bei gleichzeitigem Unterkonsum (Arbeiter können sich die Waren nicht leisten).
führt regelmäßig zu Krisen im Kapitalismus – z. B. Wirtschaftseinbrüche, Massenarbeitslosigkeit.
= Dauerhafter Klassenkonflikt: zwischen Bourgeoisie (Kapitalbesitzende) und Proletariat (Arbeiter:innenklasse) als Resultat von Systemimmanenz (also im Kapitalismus eingebaut.)
Was ist die Zusammenfassung der Marxschen strukturtheoretischen Analyse über Kapitalismus und Ausbeutung?
Marx diagnostiziert den Kapitalismus als eine Gesellschaft, die auf Ausbeutung und Entfremdung basiert, wobei der Kapitalismus enormen materiellen Reichtum produziert, aber nur durch die Unterdrückung der Arbeiterklasse (Proletariat). Diese Unterdrückung führt zu Krisen in der kapitalistischen Gesellschaft.
Kapitalismus enthält den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, was zu Überproduktions- und Unterkonsumtionskrisen führt. Diese Krisen schaffen die Grundlage für eine revolutionäre Situation, in der das Proletariat die Bourgeoisie stürzen kann. - gleich einer Diktatur des Proletariats
Vision des Sozialismus: Marx äußert sich nur vage über die sozialistische Gesellschaft. Er lehnt es ab, konkrete Details dieser Zukunft zu beschreiben, da er ein „Utopieverbot“ anwendet.
Marx' Erwartung einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft ist problematisch, da er keine detaillierte Analyse der Struktur und Funktionsweise des Sozialismus bietet. Diese Unausgewogenheit zwischen Kapitalismus und Sozialismus lässt die Gefahr eines repressiven „Reiches der Unfreiheit“ entstehen, wie es im marxistisch-leninistischen Experiment der Fall war.
Fazit: Der politische Messianismus Marx’ – die Erwartung einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft – stellt eine Schwachstelle seiner Theorie dar. Während seine Analyse des Kapitalismus tiefgründig ist, bleibt seine Vorstellung einer sozialistischen Zukunft unklar und unzureichend durchdacht.
Welches bekannte Zitat geht auf Emil Durkheim zurück und was bedeutet es?
“Wir arbeiten zusammen, weil wir es gewollt haben, aber unsere freiwillige Zusammenarbeit schafft uns Pflichten, die wir nicht gewollt haben.“
= basierend auf Kants moralischer Theorie, meint er, dass freiwillige Kooperation zu sozialer Bindung und Verpflichtung führt. Zwar entscheiden sich Individuen freiwillig, zusammenzuarbeiten, doch entsteht aus dieser Zusammenarbeit eine Notwendigkeit, soziale Pflichten zu erfüllen, um das Funktionieren der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Diese „unbeabsichtigten“ Pflichten sind ein integraler Bestandteil der sozialen Ordnung und Solidarität, die durch Arbeitsteilung entsteht. Durkheim hebt hervor, dass diese Pflichten die Individuen in eine moralische Verantwortung gegenüber der Gesellschaft einbinden, die über ihre eigenen individuellen Wünsche hinausgeht.
Was ist nach Durkheim “Soziologie”?
“Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsarten“
= alle sozialen Faktoren, Strömungen und kollektiven Vorstellungen in einer Gesellschaft.
Zu untersuchender Gegenstand: sämtliche soziale Phänomene bzw. soziale Tatbestände
Was ist nach Durkheim ein “Fait social” und welche Merkmale beinhaltet es?
„jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereich einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt“
=Soziales Phänomen, das auf sozialem Handeln beruht, in einer Gesellschaft weit verbreitet ist und einen äußeren Zwang auf Individuen ausübt, wenn sie es nicht bewusst oder freiwillig gewählt haben. (z.B. Hochzeitsrituale, Sprachregeln, moralische Normen, Gesetze)
Merkmale:
Äußerlichkeit: Soziale Phänomene existieren außerhalb des individuellen Bewusstseins und sind nicht vom Individuum geschaffen/ angeboren, sondern werden durch Erziehung erworben.
Zwang: Soziale Phänomene üben Zwang auf das Verhalten von Individuen aus, sei es durch Gesetze, Moral, gesellschaftliche Normen - Sanktionen werden verhängt, wenn diese Normen verletzt werden.
Allgemeinheit: Soziale Phänomene treten allgemein in einer Gesellschaft auf und wirken nicht nur auf individuelle Handlungen, sondern auf kollektive Strömungen, wie Massenhysterien oder statistische Trends.
Unabhängigkeit: Soziale Phänomene haben ein Eigenleben, das sich von individuellen Ausdrücken trennt und sich in Aggregaten wie statistischen Raten manifestiert, wobei individuelle Besonderheiten neutralisiert werden.
Heißt: Durkheim betrachtet Gesellschaft als eigenständige Realität, die nicht auf physische, biologische oder psychische Faktoren reduziert werden kann. Um soziale Phänomene zu verstehen, schlägt er eine methodische Herangehensweise vor, die aus drei Schritten besteht:
Beschreibung: Ziel - Soziale Phänomene möglichst objektiv und vorurteilsfrei erfassen, so wie Dinge ("comme des choses").
Vorurteilslosigkeit: Beobachter soll sich von vorgefassten Meinungen befreien.
Empirie: Nicht bloß über soziale Phänomene nachdenken, sondern sie in ihrer äußeren Erscheinung beobachten.
Initialdefinition:
Objektiv, wenn die wesentlichen Grundzüge erfasst sind.
Allgemein, wenn alle gleichartigen Phänomene unter den Begriff fallen.
Erklärung: Ziel - Phänomen verstehen, indem man Funktion und Ursache untersucht.
Trennung von Funktion und Ursache (Genese):
Funktionalität: Was bewirkt oder leistet das Phänomen in der Gesellschaft?
Kausalität (Genese): Wie ist das Phänomen entstanden?
Durch Historisch-komparative Methode:
Diachron: Vergleich über verschiedene Zeiten hinweg.
Synchron: Vergleich zwischen gleichzeitig existierenden Gesellschaften.
und Beurteilung: ob ein Phänomen normal oder pathologisch ist.
Kriterium der Normalität: wenn es in einer Gesellschaft weit verbreitet ist.
Dreischritt zur Beurteilung:
Beobachtung der Verbreitung: Wie häufig tritt das Phänomen auf?
Analyse der Bedingungen, die zu dieser Verbreitung geführt haben.
Vergleich mit der Gegenwart: Wenn die Bedingungen noch gelten → normal, wenn nicht → pathologisch.
Wie ist nach Durkheim die Soziologie entstanden?
im Zuge der „Großen Transformation“ als Produkt tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche (z. B. Industrialisierung, Urbanisierung) - dem Übergang zur Moderne
Langsamer und diskontinuierlicher Einzug in Universitäten (ca. 1890–1920)
Fließt unauffällig, aber wirksam in Kultur und Alltagssprache ein und wirkt somit zurück auf Gesellschaften, formt deren Selbstbild
Alain Touraine: Soziologie = “Träger der Historizität”
Gesellschaften nutzen sie, um sich selbst zu verstehen und ihre Zukunft zu entwerfen
Was ist Durkheims Konzept des Institutionellen Individualismus?
Idee, dass die moderne Gesellschaft dem Individuum zwar Autonomie und Würde zuspricht („Kult des Individuums“), diese aber nur durch stabile Institutionen wie Berufsgruppen, den Staat und die Demokratie gesichert werden müssen.
Diese Institutionen vermitteln zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv, stiften moralische Ordnung, verhindern Anomie und ermöglichen soziale Integration.
Freiheit des Individuums ist bei Durkheim also kein natürlicher Zustand, sondern ein Ergebnis kollektiver Bindungen und normativer Strukturen.
Ausgangsproblem: Wie entsteht soziale Ordnung, wenn Individuen frei und unabhängig sind und Menschen aber freiwillig arbeitsteilig zusammen arbeiten?
-> Pflichten und Zwänge aus Zusammenleben entstehen, welche erfüllt werden müssen, um Gesellschaft funktionsfähig zu halten. = Druck zu sozialer Solidarität
Orientierung an Kants Individualismus:
Zentrale Frage: Wie kann individuelle Freiheit in eine moralische Sozialordnung eingebettet werden?
Abgrenzung zu Kantischem Idealismus:
kategorische Imperativ: Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit zugleich als allgemeines Gesetz gelten könnte.
ABER: moralische Subjekt nicht als rein vernunftgeleitetes, autonomes Ich SONDERN: als sozial eingebettetes Wesen, dessen Autonomie nur durch institutionell vermittelte Solidarität möglich ist.
zeigt, wie moralische Autonomie (Selbstbestimmung) und soziale Ordnung miteinander vereinbar sind.
= Auch in modernen Gesellschaften muss Freiheit nicht Anarchie bedeuten.
Lösung: Institutioneller Individualismus
Moralischer Individualismus: Werte von 1789 (Menschenrechte, Freiheit) existieren als Ideale.
Aber: Diese Werte müssen durch Institutionen realisiert werden, damit sie praktisch wirken.
→ Institutioneller Individualismus = Gesellschaftliche Institutionen (wie Rechtssystem, Bildung, Berufsorganisationen) müssen Werte des Individualismus (Würde, Freiheit, Gleichheit) strukturell absichern.
Ziel: dynamische, gerechte, moderne Gesellschaft, in der individuelle Freiheit durch solidarische Institutionen getragen wird.
Gemeinsamkeit mit Marx: → Beide teilen die Werte der französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit).
Unterschiede:
Marx = Revolution & Klassenkampf
Durkheim = Reform & Berufsethik
Marx = Kapitalismus → Entfremdung
Durkheim = industrielle Gesellschaft → Anomie
9-f1Für Durkheim sind Klassen Übergangsphänomene, nicht dauerhaft. – sie verschwinden mit wachsender sozialer Gerechtigkeit.
Was sind die 3 zentrale Thesen zur Zeitdiagnose über Durkheims Institutionellen Individualismus?
Zeitdiagnose: Moderne Gesellschaft braucht institutionellen Individualismus zur Sicherung von Freiheit und Ordnung.
Werkkontinuität: Durkheim sucht in allem, was er untersucht (Arbeitsteilung, Religion usw.), nach Antworten auf diese eine große Frage: Wie verbindet sich individuelle Freiheit mit gesellschaftlichem Zusammenhalt?
Soziologische Transformation: alte philosophische Frage („Wie ist Ordnung möglich?“) wird von Durkheim soziologisch neu gestellt -> Arbeitsteilung und Solidarität ersetzen abstrakte Begriffe wie Freiheit und Pflicht.
Kernsatz: „Wie kann das Individuum zugleich immer autonomer und zugleich immer abhängiger von der Gesellschaft werden?“Antwort: Durch eine neue Form sozialer Solidarität, getragen von arbeitsteiliger Kooperation und gerechten Institutionen.
Was ist nach Durkheim “Arbeitsteilung”?
Begriff, um die Struktur und Funktionsweise moderner Gesellschaften zu verstehen.
KEINE:
die Produktivität der Arbeitsteilung (wie bei Adam Smith)
oder Klassenbildung (wie bei Marx)
Sondern: Er untersucht, wie Arbeitsteilung soziale Solidarität (Zusammenhalt) ermöglicht
Durkheim zeigt, dass moderne Gesellschaften durch arbeitsteilige Unterschiede zusammengehalten werden, aber diese Struktur ist anfällig für Krisen (z.B. Anomie), die durch bewusste Regelanpassung überwunden werden können.
Was sind pathologische (problematische) Formen der Arbeitsteilung nach Durkheim?
Anomische Arbeitsteilung: Regellosigkeit bei zu schnellem Wandel. Keine spontanen Regeln → soziale Krise → Anomie entsteht
Erzwungene Arbeitsteilung: Alte Regeln passen nicht mehr → Ungerechtigkeit → soziale Konflikte, Klassenkämpfe.
Koordinationsdefizite: Probleme innerhalb der ORganisation durch fehlende Abstimmung
Anomie = Übergangskrise, heilbar durch neue Regeln.
Zwang = tiefer Systemfehler → nur revolutionärer Wandel (z.B. neue Eigentumsverhältnisse) kann helfen
Was ist nach Durkheim Moral?
Ein System von Regeln und Werten, das in einer Gesellschaft verbindlich ist und das Verhalten der Individuen leitet - Fundament sozialer Ordnung und umfasst Werte, Normen und kollektive Überzeugungen.
= Ohne moralische Regeln keine soziale Bindung.
Was bedeutet Solidarität nach Durkheim und welche Arten gibt es?
= tatsächlich gelebte soziale Band, das Menschen trotz Individualisierung miteinander verbindet.Sie zeigt sich im Gefühl der Zugehörigkeit, gemeinsamen Verpflichtungen und wechselseitigen Abhängigkeiten
Durkheim: „Solidarität ist ein rein moralisches Phänomen, das aus dem Bewusstsein der Individuen hervorgeht.“, als Zusammenspiel von:
Sozialstruktur (Wie eine Gesellschaft aufgebaut ist)
Kultur/ Werten
Gleichgewicht dieser Puntke = Solidarität
Heißt: Solidarität ist nicht nur ein rechtliches oder ökonomisches Verhältnis, sondern beruht auf gemeinsamen moralischen Überzeugungen – z. B. was gerecht, gut oder verpflichtend ist.
Achtung: Nur gerechte Institutionen, die Werte widerspiegeln, erzeugen moralische Autorität und sozialen Zusammenhalt.
Arten
Mechanische Solidarität: Archaische Gesellschaften
in kleinen, segmentierten Einheiten
stark einheitliches Kollektivbewusstsein
Integration direkt in die Gemeinschaft
Basis: Ähnlichkeit aller
Organische Solidarität: Moderne Gesellschaften
in großen differenzierten Lebensbereichen
vielfältiges und funktionsspezifisches Kollektivbewusstsein
Integration indirekt über Arbeitsteilung und INterdependenzen
Basis: Unterschiedlichkeit (Arbeitsteilung) aller
= Solidarität ist ohne Moral nicht möglich, denn sie beruht auf einer gemeinsam geteilten Vorstellung davon, was richtig und verbindlich ist – sei es durch Ähnlichkeit (mechanisch) oder funktionale Abhängigkeit (organisch).
Ungeklärtes Problem: Träger der organischen Solidarität:Wer sind konkret die Gruppen, die Solidarität in einer arbeitsteiligen Gesellschaft stützen?
Kritik: Moderne Form des Kollektivbewusstseins:Ist der "Kult des Individuums" (also Wertschätzung der Individualität) wirklich ausreichend als gemeinsames neues Ideal?
Wie hängen laut Durkheim Arbeitsteilung, Solidarität und Moral zusammen?
Arbeitsteilung → schafft Solidarität → schafft moralische Ordnung.
Gesellschaft bleibt zusammen, weil Arbeitsteilung wechselseitige Abhängigkeit erzeugt und dadurch moralische Bindungen entstehen.
Welches Verständnis hat Durkheim von der Institution Staat?
Durkheim steht zwischen zwei Staatsverständnissen:
Auguste Compte: starker, zentraler Staat, der Gesellschaft moralisch lenkt und organisiert
Herbert Spencer: Minimalstaat, der sich nicht einmischt, sondern nur Recht und Ordnung garantiert
Durkheims Problem:
Er sieht, dass eine gerechte Gesellschaft Regeln braucht, die von außen durchgesetzt werden (z. B. gegen Anomie).
Aber er will keinen autoritären Staat, der alles moralisch vorgibt (wie Comte).
Gleichzeitig glaubt er nicht an die reine Selbstregulation durch Märkte oder Individuen (wie Spencer).
→ Er schwankt also: Wie viel Staat ist nötig, um Solidarität und Moral zu sichern – ohne die Freiheit des Einzelnen zu untergraben?
Für ihn ist Staat:
nicht bloß Produkt sozialer Differenzierung
sondern: eigenständiges Organ kollektiver Reflexion
Aufgabe des Staates:
Allgemeine Prinzipien und Kollektivvorstellungen ausarbeiten
Steuern, integrieren, normativ sichern
Nicht alles selbst regulieren – sondern Raum lassen für sekundäre Gruppen (Berufsgruppen)
Pathologie: Überstaatlichkeit: Ein alles kontrollierender Staat ohne gesellschaftliche Rückkopplung
Achtung: Moderne Demokratie ist laut Durkheim nur stabil, wenn es ein Machtgleichgewicht zwischen Staat und intermediären Instanzen gibt.
Weshalb beschäftigt sich Durkheim so viel mit der Institution Staat?
Durkheim erkennt, dass moderne Gesellschaften nicht ohne zentrale Ordnungsmacht funktionieren – aber er bleibt unklar, ob der Staat diese Rolle aktiv (lenkend) oder passiv (ermöglichend) übernehmen soll.Diese Ambivalenz bleibt in seiner Theorie offen und wird später z. B. von Parsons oder Habermas weitergeführt.
Grundlegend geht er der Frage nach, wer:
Regeln bei Anomie setzt
moralische Werte schützt
gerechte Institutionen garantiert
Was ist nach Durkheim soziale Differenzierung und welches Konzept schlägt er als Lösung vor?
= Spezialisierte Arbeitsteilung und Durkheim beobachtet, dass je mehr soziale Differenzierung stattfindet, desto mehr verlieren klassische Bindungen (wie z:B: Familie, Verwandtschaft) an Bedeutung
Kontraktionsgesetz der Familie (loi de contraction de la famille) = Veränderung der Familienstruktur in der Moderne
Problem: Wenn Familie als moralische Institution zerfällt, muss etwas anderes ihre Rolle übernehmen, um soziale Kohäsion (Zusammenhalt) zu sichern. und Anomie/ Isolation zu verhindern
Aber: „Eine Gesellschaft, die aus einer Unmasse unorganisierter Individuen besteht und von einem Überstaat zusammengehalten wird, ist ein soziologisches Monstrum.“
➡️ Und deshalb schlägt er : Berufsgruppen als soziale, moralische und politische Mittlerinstanzen vor
Für was stehen BErufsgruppen nach Durkheim?
Träger organischer Solidarität und zentralen Mittlern zwischen:
Individuum und Staat
Privatheit (Familie) und Öffentlichkeit (Politik)
Durkheim spricht ihnen daher eine zentrale gesellschaftsstabilisierende Funktion zu – sowohl sozial als auch politisch.
Vorteile von Berufsgruppen:
Mittlere Größe, also gut steuerbar und erfahrbar
Fördern normative Integration, weil gemeinsame Interessen und Werte entstehen
Bieten Raum für Regelbildung, Selbstverwaltung und Mitbestimmung
Unterstützen das Gefühl, nicht anonym und ungeschützt zu sein
Welche Ziele und Merkmale hat eine organisierte Berufsstruktur einer Berufsgruppe nach Durkheim?
Ziel ist es, wirtschaftliche Selbstregulierung, soziale Gerechtigkeit und politische Repräsentation zu verbinden durch:
Merkmal
Administrative Räte
Gewählte Gremien auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene
Zwei-Kammer-System
Gleichberechtigte Vertretung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
Zwangsmitgliedschaft
Alle Berufstätigen müssen organisiert sein – gegen soziale Anomie
Funktionale Rollen
Repräsentation, Artikulation, Regelsetzung, Konfliktlösung
Kontakt zum Staat
Kooperation, aber Wahrung der Autonomie zwischen Staat und Berufsgruppen
und moralischen Individualismus zu fördern
Was ist nach Durkheim ein moralischer Individualismus?
“Das Individuum wird zur heiligen sozialen Idee der Moderne. Die Gesellschaft organisiert sich um den Schutz und die Entfaltung des Einzelnen.”
Aber: Damit dies gelingt, braucht es Institutionen, die
Integration statt Isolation ermöglichen
Kollektive Moral erzeugen, die Individualismus trägt
Gleichgewicht zwischen individueller Autonomie und sozialer Bindung schaffen
→ „moralische Individualismus“ ist also nicht individualistisch im liberalen Sinn, sondern auf soziale Institutionen angewiesen.
Genau diese Rolle sollen die Berufsgruppen übernehmen!
Welche Institutionen übernehmen welche Rolle in Durkheims institutionellem Individualismus?
Element
Ziel / Funktion bei Durkheim
Berufsgruppen
Herstellung organischer Solidarität, Selbstregulierung des Arbeitslebens, moralische Sozialintegration
Staat
Rahmensetzung, kollektive Werte formulieren und sichern, Steuerung, Integration
Demokratie
Machtbalance, Partizipation ermöglichen, Schutz vor Anomie und Willkür
Individuum
Autonomie, moralisches Zentrum der Gesellschaft, Träger kollektiver Werte
Was ist Durkheims Verständnis von Religion?
Religion = „Ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken über heilige Dinge, das alle Mitglieder derselben moralischen Gemeinschaft (Kirche) vereint.“
Kirche = nicht bloß Priesterschaft, sondern die Gesamtheit der Gläubigen als moralische Gemeinschaft.
Abgrenzung zu Magie:
Religion = kollektiv, gemeinschaftlich (Kirche)
Magie = individualistisch, keine gemeinschaftsbildende Kraft
Zentrale Merkmale
Durkheim sagt: Alle Religionen trennen die Welt in zwei Bereiche:
Das Heilige (le sacré): alles, was besonders, verehrt, geschützt oder verboten ist. – man darf es nicht einfach benutzen oder behandeln wie alles andere.
heilige Schriften (z.B. der Koran)
Zeremonien, wie Hochzeiten → Man geht damit ehrfürchtig oder vorsichtig um.
Vs. das Profane (le profane): alltägliche Bereich – alles, was nicht heilig ist.Man kann es einfach benutzen, anfassen, verändern ohne religiöse Bedeutung
normale Bücher
Spaziergänge
Trennung = Grundprinzip jeder Religion und hat drei Eigenschaften:
Heterogenität → Die zwei Bereiche sind komplett verschieden, man darf sie nicht vermischen.
Antagonismus → Sie stoßen sich ab: Heiliges und Profanes dürfen sich nicht berühren (z. B. keine schmutzigen Hände bei der Hostie).
Hierarchie → Das Heilige ist höherwertig, es hat mehr Bedeutung, mehr Macht.
Die Regeln rund ums Heilige sagen den Menschen, was wichtig ist, was tabu ist – und das verbindet die Gemeinschaft. = soziale Ordnung wird hergestellt
Auf welchen Bestandteilen basiert Durkheims Religionstheorie?
Durkheim lehnt rein spiritualistische oder idealistische Religionstheorien ab – Religion ist für ihn immer auch Handlung, nicht nur Glaube.
Bestandteile
Glaube (le croyance): Kognitive Inhalte einer Religion
= kollektive Vorstellungen über das Heilige, die eine Gruppe miteinander teilt
Glaubensinhalte sind kollektive Repräsentationen – also gesellschaftlich geteilte Symbole, die gemeinsame Bedeutung stiften. (Repräsentations collectives)
z.B. „Es gibt einen Gott, der allmächtig ist.“
Ritus (le rite): kollektiv geregelte verhaltensregulierende Handlungen, die den Glauben körperlich und sozial umsetzen
Riten strukturieren den Umgang mit dem Heiligen: wann, wie und wer sich dem Heiligen nähern darf – oder es vermeiden muss.
Sie schaffen soziale Kohärenz und kollektive Identität.
z.B. Opfer bringen, Beten, Fasten, etc
Diese Trennung spiegelt das Verhältnis von Denken und Tun wider.
Was sind Durkheims 3 Hypothesen über Religion und Gesellschaft?
Kausale Hypothese – Religion ist sozial bedingt → Sie entsteht aus sozialen Bedingungen, insbesondere in Momenten kollektiver Erregung
„effervescence créatrice“: In Momenten intensiver kollektiver Versammlung (z. B. Rituale, Feste, Trauer) entsteht ein emotionaler Überschuss, der als „überindividuelle Kraft“ erlebt wird.
Interpretative Hypothese – Religion ist nicht nur kausal aus Gesellschaft hervorgegangen, sondern sie bildet diese auch ab: repräsentationstheoretischen Sicht:
Kognitiv: Religion bildet gesellschaftliche Strukturen ab
Gott = Gesellschaft: Was als Gott oder Heiliges verehrt wird, ist in Wahrheit die Gesellschaft selbst in überhöhter Form.
= Religion erzeugt damit kollektive Weltdeutungsmuster, die Denken und Wahrnehmung strukturieren.
z.B. Kalender mit Feiertagen basiert auf kollektiven Gedenkakten, nicht auf Naturgesetzen.
Expressiv: Religion dramatisiert und symbolisiert gesellschaftliche Wirklichkeiten
Religion ist eine Bühne, auf der Gesellschaft sich selbst inszeniert: durch Rituale, Mythen, Feste.
Sie dramatisiert ihre Werte, Normen und Konflikte in symbolischer Form – etwa durch Opfer, Reinigung, Tabus.
Funktionale Hypothese – Religion ist nicht nur ein „Abbild“ der Gesellschaft, sondern wirkt auf Gesellschaft & Individuum zurück
Makrosozial:
Integration: Religion stiftet Zusammenhalt durch gemeinsame Rituale, Werte, Normen.
Kollektive Identität: Durch das Heilige wird eine moralische Gemeinschaft („Kirche“) gebildet.
Kulturstiftung: Religion trägt zur Entwicklung von Recht, Moral und Wissen bei.
Selbstreflexion der Gesellschaft: In der religiösen Symbolik denkt Gesellschaft über sich selbst nach.
Mikrosozial:
Lebensorientierung: Religion gibt dem Einzelnen Sinn, Halt und moralische Orientierung.
Disziplinierung: Rituelle Vorschriften strukturieren das Verhalten, formen den Charakter.
Kraftquelle: Durch Rituale oder Gebet erlebt das Individuum Kollektivmacht als innere Stärke.
Heißt: Das Gebet an Gott ist in Wahrheit die Mobilisierung kollektiver Energie – aber sie wird als persönliche Kraft erlebt.
Hypothese
Inhalt
Zielrichtung
Kausal
Religion entsteht aus kollektiven sozialen Erfahrungen
→ Entstehung von Religion erklären
Interpretativ
Religion ist Symbol für gesellschaftliche Ordnung und Weltdeutung
→ Religion als Spiegel der Gesellschaft
Funktional
Religion trägt zur Stabilität und Kohäsion von Gesellschaft und Individuum bei
→ Religion als aktive soziale Kraft
Was ist nach Durkheim eine Kirche im soziologischen Sinne?
“Eine Religion ist ein solidarisches System von Glaubenssätzen und Praktiken in Bezug auf heilige Dinge (…) das alle, die ihm angehören, in eine moralische Gemeinschaft, genannt Kirche, vereinigt.“
Heißt: Religion = System aus:
Überzeugungen über das Heilige (Glaube) und
praktischen Regeln für den Umgang damit (Ritus).
Beides zusammen führt dazu, dass sich eine moralische Gemeinschaft bildet –> eine Kirche im soziologischen Sinn (egal ob christlich, buddhistisch, animistisch usw.).
Was ist nach Durkheim moralischer Individualismus?
Auch in modernen Gesellschaften gibt es etwas „Religiöses“ – nur in neuer Form:
Moderne Gesellschaften heiligen nicht mehr Götter, sondern das Individuum: „Der Mensch ist ein Gott für den Menschen geworden.“
= Individuum wird in seiner Würde und Unverletzlichkeit religiös überhöht = moralischen Individualismus.
Was ist nach Durkheim eine säkuläre Religion?
= Neue (losgelöste) weltliche, kollektive Moralordnung,die nicht auf einem transzendenten Gott, sondern basierend auf soziomoralischen Prinzipien der
Gleichheit: Jeder MEnsch hat denselben moralischen Wert
Solidarität: Gesellschaftlicher Zusammenhalt basierend auf einem bewussten Miteinander, nicht aufgrund göttlichem Gebot
Reziprozität (Wechselseitigkeit): Gefühl von gegenseitiger Verantwortung z.B. durch Sozialversicherung, Steuersystemen, Nachbarschaftshilfe.
Religion ist im Kern das, was die Gesellschaft zusammenhält, dann kann es auch säkulare Religionen geben – also Formen des kollektiven Glaubens ohne Gott.
Klassische Religion
Neue (säkulare) Religion
Glaube an Gott
Glaube an Menschenwürde
Gebote Gottes
Menschenrechte, Gesetze
Nächstenliebe
Solidarität & Sozialstaat
Heiliges Objekt
Nationalflagge, Verfassung
Opfer im Ritus
Selbstverzicht im Gemeinwohl
Welche Aufgabe sieht Durkheim in der Neuen Religion in modernen Gesellschaften und welche Institutionen verwirklichen sie?
Die „Religion“ der Moderne ist nicht transzendent (Gott ist z. B. transzendent, weil er außerhalb der Welt existiert) – aber sie funktioniert ähnlich:Sie schafft Bindung, Orientierung und moralische Ordnung durch weltliche Institutionen.
STaat = Hüter des Kollektivideals
Damals: Gott als moralische Instanz
Heute: Staat ersetzt in Teilen die religiöse Institution als moralisches Zentrum (Menschenrechte, Demokratie)
Erziehung = Vermittlung des Heiligen
Damals: Kirche als Vermittler von Werten
Heute: Schulen als zentrale Vermittler kollektiver Werte und Sozialisatoren moralischer Ordnung
Lehrer*innen sind „weltliche Priester“ einer säkularen Ethikgemeinschaft
Berufsverbände = neue moralische Kollektive
Damals: Religiöse Glaubensgemeinschaften
Heute: Verbände stiften Berufsethos und Verantwortungsgefühl durch moralische Prinzipien und nicht ökonomischen Zwang
Was ist eine korporative Gesellschaft nach Durkheim?
Idee von Henri de Saint-Simon,der im 19. Jahrhundert eine alternative Ordnung zur liberalen Marktgesellschaft entwerfen wollte. Seine Idee:
“Die Gesellschaft soll sich neu organisieren, nicht mehr bloß nach Klassen (Arm/Reich), sondern nach Berufen und Funktionen.
➡ Diese „Berufsgruppen“ oder „Korporationen“ sollen:
politische Mitsprache erhalten (quasi Mini-Parlamente der Berufe),
ethische Verantwortung übernehmen (nicht nur profitorientiert),
zwischen Staat, Markt und Individuum vermitteln.
Ziel: Überwindung von Klassenkämpfen, durch eine sachlich gerechte, berufsbezogene Organisation des Gemeinwohls mit ökonomisch-rational gesteuerter Gesellschaft, die soziale Harmonie schafft – mit einem gewissen technokratischen Elitarismus.
Durkheim greift diese Idee auf, kritisiert aber den technokratischen Zugriff und bringt eine soziologisch-moralische Dimension ein:
👉 Durkheims Konzept der Berufsgruppen ist eine Weiterentwicklung, weil er "vergesellschaftet" und "moralisiert" Saint-Simons technokratische Idee.
Bei ihm sollen Berufsgruppen:
nicht bloß produktiv sein,
sondern die Werte einer modernen, säkularen, solidarischen Gesellschaft verkörpern und mittragen.
Sie sind also inspiriert von Saint-Simon, aber keine einfache Wiederholung. Durkheim „zivilisiert“ und „vergesellschaftet“ das Modell weiter – weg von technokratischer Steuerung, hin zu moralischer Integration.
Wichtig: Durkheim war kein Sozialist oder Technokrat, sondern suchte eine Balance zwischen individuellem Recht und kollektiver Moral.
Er wollte die Ökonomie wieder in die Gesellschaft integrieren, ohne sie zu vergötzen (wie der Utilitarismus) oder zu ersetzen (wie der Sozialismus)
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