Was ist Systemische Therapie?
Systemische Therapie ist ein psychotherapeutisches Verfahren,
dessen Fokus auf dem sozialen Kontext psychischer Störungen
liegt. Dabei werden zusätzlich zu einem oder mehreren Patienten
(„Indexpatienten“) weitere Mitglieder des für die Patientin oder den
Patienten bedeutsamen sozialen Systems einbezogen. Die
Therapie fokussiert auf die Interaktionen zwischen Mitgliedern
der Familie oder des Systems und deren weiterer sozialer
Umwelt.
Entwicklung der Systemischen Therapie
• Ursprung in den USA in den 50er und 60er Jahren
Wurzeln:
• Forschungsarbeiten zur Schizophrenie
• Psychoanalyse: Freud, Jung und Adler betonten die Familie als
wichtigen Unterstützungsfaktor in der Psychotherapie
• wesentliche Erkenntnisse über wechselseitige Abhängigkeiten
stammen aus Physik, Biologie, Mathematik, Kybernetik,
Informatik, Semantik und Anthropologie (z.B. Bateson, Varela,
Maturana)
Systemische Perspektive in Abgrenzung zu
• Psychodynamischen Therapien
– Psychoanalyse
– Sigmund S. Freud (1856 – 1939)
– Carl G. Jung (1875 – 1961)
• Behaviorismus
– John B. Watson (1878 – 1958)
– Burrhus F. Skinner (1904 – 1990)
– „Herkömmliche“ Psychiatrie
Paradigmen der Systemischen Therapie
1. Systemisches Denken
2. Fokus auf sozialen Interaktionsstrukturen
3. Fokus auf Selbstorganisation
4. Lösungs- und Ressourcenorientierung
5. Konstruktivistische Perspektive
• Betrachtung von Systemen anstelle von Individuen
Konzept der Zirkularität:
• Das Verhalten jedes Systemmitglieds ist gleichzeitig Ursache und Wirkung des Verhaltens anderer Mitglieder
• Ablehnung einseitiger lineare Ursache-Wirkungs- Beschreibungen (z.B. Er trinkt, weil sie sich ihm verweigert / Sie verweigert sich, weil er trinkt)
Zirkuläre Kausalität
• Fokus auf der Veränderung sozial-interaktiver Strukturen (anstelle von Symptomen), die Symptome aufrechterhalten und eine eigenständige Lösung blockieren (weniger auf Symptome)
• Prinzipien der Selbstorganisation
• Veränderung von innen, Hilfe zur Selbsthilfe
• Unterstützung der vorhandenen Potenziale
System kann nicht von außen verändert werden, nur veränderung angestoßen werden
• Annahme: Probleme und Symptome sind keine Defizite oder Fehlverhalten, sondern fehlgeleitete Lösungsversuche für eine schwierige Situation
• Jedes Individuum und System trägt die Lösung in sich auch wenn der Zugang dazu aktuell versperrt ist („Klemmender Werkzeugkasten“)
• Menschen besitzen selbst die Stärke, Kraft, Klugheit und die Erfahrung, um eine Veränderung zu bewirken
• Fokus auf aufrechterhaltenden Bedingungen und Lösungen (weniger auf möglichen Ursachen)
• Es gibt viele Wahrheiten
• Wissen über uns selbst und unsere Welt ist das Resultat von Konstruktionen und weniger von objektiven Fakten
Alle Perspektiven im System sind gleichwertig und stehen nebeneinander, sind gleichrichtig/ gleich falsch
Beziehungsgestaltung
• Flache Hierarchien
• Der Klient ist der Experte für sein Leben.
• Der Therapeut trägt eine Prozessverantwortung. (nicht für Therapieerfolg)
„Blockaden“ in der Therapie:
• Schutzmechanismus oder realistischer Wunsch des Klienten behutsam vorzugehen
• Aber: Es kann sich auch um einen TherapeutInnenfehler handeln (z.B. Intervention passte nicht zum Patienten)
Therapeutische Grundhaltung
• Allparteilichkeit (für alle Familienmitglieder gleichermaßen Partei ergreifen)
• Neutralität (auf keiner Seite stehen)
– gegenüber Personen
– gegenüber Problemen / Symptomen
– gegenüber Ideen
• Aufbau einer warmen, empathischen Beziehung
• Respektvolle Neugier, keine vorschnellen Erkenntnisse
Therapieschulen der Systemischen Therapie
Entwicklung der lösungsorientierten Kurzzeittherapie
• Entwickelt von Steve de Shazer und Kollegen in den 70er und 80er Jahren (Milwaukee, USA)
• Konstruktivistische und systemtheoretische Ansätze
• Hypnotherapie nach Milton Erickson
• Enger Austausch mit der Gruppe um Paul Watzlawick
Grundannahme der lösungsorientierten „Gespräche“
„Das Sprechen über Probleme erzeugt Probleme, das Sprechen über Lösungen erzeugt Lösungen“
Herangehensweise
• Ziel: Reduktion von Barrieren zwischen Ist-Zustand und Lösung
• Fokus auf Ausnahmen von Missständen, Umdeutungen, aber auch positive Zukunftsvorstellungen
• Therapie weder problem- noch diagnosespezifisch, daher breiter Einsatzbereich von „normalen Problemen des Lebens“ bis hin zu schweren psychischen Erkrankungen; Beachte: —> widerspricht sich mit den Indikationskriterien von Psychotherapie in der GKV!
Herangehensweise 2
• Klient entwickelt und definiert eigene Lösungen auf der Basis seiner persönlichen Möglichkeiten und seinem individuellen Weltverständnis heraus
• Lösungen können unkonventionell und kontrovers ausfallen
• Positive Betrachtung von Widerspruch, Ablehnung oder Fallenlassen von Ideen, denn der Klient ist der Experte.
Typologie von Klienten
• Klienten unterscheiden sich in ihrer Behandlungsmotivation:
„Besucher“:
• keine expliziten Beschwerden
• Kein manifester Veränderungsauftrag
• —> Nicht davon überzeugen, dass Klienten eine Therapie benötigen, sondern freundlich behandeln
„Klagende“:
• mit Beschwerden
• Erwarten die Veränderung von anderen (z. B. vom Therapeuten oder vom Partner)
• —> Verhaltensbeobachtungs- und Denkaufgaben
„Kunden“:
• Klienten mit Beschwerden
• aktive Veränderungsmotivation
• —> Veränderungskontrakt kann geschlossen werden, erhalten Beobachtungs- und auch verhaltensrelevante Aufgaben
• Orientierung an Typologie vermeidet Überengagement der Therapeuten und führt zu einer konsensuellen und kooperativen Beziehungsgestaltung
Setting
• Wenn möglich Einbezug des Familien- und sonstigen sozialen Systems
• Früher: Beobachtung und Aufzeichnung der Therapie von einem Team hinter einem Einwegspiegel
• Heute: meist eher Therapiegespräch ohne Videoaufzeichnung, falls vorhanden „reflektierendes Team“ im Therapieraum
Ablauf der ersten Therapiesitzung
1. Erläuterung des Settings, Kennenlernen der Teammitglieder
2. Exploration der Beschwerde des Klienten; Therapeut versucht, diese Beschwerde so konkret wie möglich zu verstehen:
• Was geschieht genau, Schritt für Schritt?
• Wer ist alles involviert?
• Macht es einen Unterschied, wer zu welchem Zeitpunkt in die Beschwerde verwickelt ist oder nicht?
• Mit welcher Regelmäßigkeit tritt die Beschwerde auf?
• Je mehr Details bekannt werden, desto mehr Interventionsmöglichkeiten und Ziele können sich ergeben.
3. Exploration von Ausnahmen in denen das Problem nicht auftritt:
• Was passiert, wenn die Beschwerde nicht auftritt?
• Wie ermöglichen der Klient und seine Familie diese Ausnahmen?
• Ausnahmen zeigen nicht nur, was aktuell schon funktioniert, sie erhöhen auch die Erwartung, dass ein künftiges Leben ohne die Beschwerde möglich ist.
• Bereits erfolgte positive Veränderungen im Zeitraum zwischen Terminvereinbarung und der ersten Therapiesitzung nutzen.
Die „Wunderfrage“
• Nützlich, um Ziele zu entwickeln und Veränderungen zu induzieren
• Präzise Exploration wichtig: Was genau wäre anders – beim Zähneputzen? Beim Frühstücken? Kleidung? usw. – welche Änderungen würden durch Bezugspersonen (Kind? Katze? Chef?) bemerkt werden?
• Immer mit der kleinsten, einfachsten und leichtesten Veränderung beginnen, ggf. Ausnahmen verstärken und ausbauen.
Ablauf der ersten Therapiesitzung (4)
4. Festlegung von Therapiezielen:
• Die gemachten Beobachtungen führen häufig von selbst zur Entwicklung konkreter Ziele, die ebenfalls die Änderungserwartungen des Klienten stärken, sich aber auch als Gradmesser für den Erfolg (und die Beendigung) der Therapie eignen.
Gute Therapieziele sind…
• bedeutsam für den Klienten
• nicht zu groß
• möglichst konkret, präzise und verhaltensbezogen formuliert
• eher das Vorhandensein als die Abwesenheit von etwas ausdrückend
• eher einen Anfang als ein Ende beschreibend
• realistisch und erreichbar und
• als Resultat »harter Arbeit« beschreibbar
Ablauf der ersten Therapiesitzung (5&6)
5. Fokus des Gesprächs auf der Abwesenheit der Beschwerde, weil
Beschwerden sich insbesondere über die Erwartung stabilisieren, dass sie erneut auftreten.
6. Unterbrechung der Therapiesitzung:
• TherapeutIn unterbricht nach etwa 30 bis 40 Minuten für 10 Minuten, um sich mit dem Team zu beraten oder selbst über den bisherigen Verlauf nachzudenken.
• Fokus auf dem, was gut für den Klienten ist, auf den Ausnahmen vom gewohnten Muster sowie darauf, wie der Klient sein wird, wenn die Beschwerde endgültig überwunden worden ist.
Ablauf der ersten Therapie-/Beratungssitzung 7&8
7. Abschlussintervention:
• Komplimente und weiterführende Vorschläge (bei Team: Entwicklung in der Pause während der Therapie)
• therapeutische Vorschläge und Aufgaben, die den Klienten näher an die Lösung bringen.
• Bei noch nicht klar genug benannten Beschwerden für konkrete Interventionen wird dazu angeregt, bis zu überlegen, was sich im Leben nicht verändern sollte.
8. Verschriftlichung der Intervention
• Verlesung ggü. dem Klienten (wenige Min.) und kurzer Abschluss
Ablauf der weiteren Therapie-/Beratungssitzungen
• Alle folgenden Sitzungen haben dieselbe Struktur
• Unterschied: das Sprechen über die Beschwerde bekommt einen möglichst geringen Stellenwert
• Fokus auf der Suche nach Ausnahmen und kleinen Unterschieden und dem aktiven Unterstützen der Veränderungen, die zwischen den Sitzungen eingetroffen sind:
– Was ist geschehen und was soll weiterhin geschehen?
– Was lief besser oder was hat ein Klient Gutes für sich getan und wie kann er das weiterhin geschehen lassen?
Ablauf der weiteren Therapie-/Beratungssitzungen 2
• Therapien werden häufig bereits nach 5 oder 6 Sitzungen beendet
• Die Abstände zwischen den Sitzungen orientieren sich am Therapieerfolg:
– Bei Besserungen Verlängerung des Intervalls zwischen den Sitzungen, der Klient entscheidet dann über die Notwendigkeit und Frequenz, nachdem der Therapeut einen Zeitraum von sechs Wochen vorgeschlagen hat.
– Sofern es zu keiner Besserung kommt, bleibt es bei wöchentlichen Sitzungen, bei einer Verschlechterung bieten sich Beobachtungsaufgaben an.
Zentrale Fragen in der Lösungsorientierten Kurztherapie
• Was tut der Klient schon jetzt Gutes, Nützliches und Effektives?
• Welche Unterschiede lassen sich beobachten, wenn sich die Beschwerde realisiert oder nicht? Wie lässt sich eine Veränderung ohne die Beschwerde fördern?
• Inwieweit lassen sich einzelne, konkrete Abfolgen eines problematischen Musters beobachten?
• Wie unterscheiden sich diese Muster von den Ausnahmen des Musters?
Wie könnte man sich neue Lösungen vorstellen, indem…
• die Ausnahme zur Regel gemacht wird?
• der Ort gewechselt wird, an dem das Muster sich zeigt?
• die am Muster beteiligten Personen wechseln?
• die Reihenfolge der Schritte vertauscht wird?
• neue Elemente oder Schritte dem Muster hinzugefügt werden?
• das Muster zufällig begonnen oder beendet wird?
• die Häufigkeit im Auftreten des Musters erhöht wird?
—> Welche dieser Variationen würde am besten zur Welt des Klienten passen? Welche würde er am ehesten umsetzen?
Empirische Befunde
• zahlreiche Feldstudien, in denen unabhängige Forscher die positiven Ergebnisse des Ansatzes, auch über längere Zeiträume belegen (de Shazer & Berg, 1998)
• Wirksamkeit von BSFT in randomisierten kontrollierten Studien (Metaanalyse von Schmidt 2016) belegt bei Depressionen und Angststörungen
Kritische Einordnung
• Therapiehistorisch wichtige Wende in der Entwicklung systemischer und familientherapeutischer Interventionen, deren zentrale Bezugsperspektiven (z. B. »Ressourcenorientierung «) heute zum Mainstream unterschiedlicher Therapieschulen zählen
• Ob Klienten immer in dem beschriebenen Tempo so konsequent vom Problem zur Lösung umschalten können kann in Frage gestellt werden
Stand der Forschung
• In Deutschland seit Ende 2008 anerkanntes
wissenschaftlich fundiertes Therapieverfahren
•https://www.wbpsychotherapie.de/gutachten/abgeschlossenegutachten/systemische-therapie
• häufige Zusatzausbildung bei approbierten Psychotherapeuten (12% der Therapeuten in NRW; 2004)
• als Richtlinienverfahren anerkannt
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