Diagnostischer Prozess: Ziele und Inhalte
Ziel: Identifikation relevanter Faktoren für Entstehung & Aufrechterhaltung psychischer Symptome
Funktionen:
Verifikation diagnostischer Hypothesen
Qualitative & quantitative Beschreibung der aktuellen Symptomatik
Klärung der Psychotherapie-Indikation (bei Erfüllen der Störungskriterien)
Evaluation des Therapieverlaufs
Prozess: Diagnostik als „roter Faden“ von der ersten bis zur letzten Begegnung mit Patient*innen und deren Bezugspersonen
Besonderheiten im Kindes- und Jugendalter:
Verhalten im Entwicklungskontext beurteilen (altersangemessen vs. unangemessen)
Einsatz reliabler, valider, altersgerechter Instrumente (Lesefähigkeit, Sprachverständnis, Aufmerksamkeit)
Jüngere Kinder liefern oft keine differenzierten Selbstberichte
Goldstandard: Multi-Informant*innen-Ansatz (Eltern, Kind, Lehrpersonen); Eltern-Kind-Übereinstimmung meist nur moderat
Vorgehen: multimethodal, datenbasiert und standardisiert
Diagnostik in der Therapieplanung und -evaluation
Ziel: Sorgfältige Abklärung zur Planung, Indikationsstellung, Durchführung und Evaluation psychotherapeutischer Maßnahmen
Statusdiagnostik: Aussage über Patient*innen zu einem festen Zeitpunkt
Prozessdiagnostik: Veränderungsmessung – Untersuchung des Verhaltens zu mehreren Zeitpunkten
Indikation: Entscheidungen über Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen
Selektive Indikation: Ja/Nein zur Behandlung, Zuordnung von Diagnosen zu Interventionen
Adaptive Indikation: Anpassung der Maßnahmen an Patient*innen-Merkmale und Reaktionen
Differenzielle Indikation: Wahl des Settings (ambulant, stationär, teilstationär)
Evaluation:
Therapieverlauf: Einsatz valider Verfahren als Zwischen- und Abschlussmessung
Goal Attainment Scale (GAS): Individualisierte Zielkontrolle auf 5-Punkte-Skala
Clinical Global Impression of Change (CGIC): Globalmaß der Veränderung auf 7-stufiger Likert-Skala
Stundenbogen KJ: Erfassung von Wirkfaktoren (Problemaktualisierung, Ressourcen, Bewältigung, Motivation, Therapeutische Allianz, Elternrolle)
Diagnostik in der Verhaltenstherapie
Grundlage: Klassifikatorische Diagnostik (klinisch-diagnostische Interviews)
Fallspezifische Problemanalyse:
Problemstrukturierung
Bedingungsanalyse inkl. Verhaltensanalyse
Zielanalyse
Ergänzende Verfahren:
Testverfahren & Fragebögen zur Symptom- und Schweregrad-Abklärung
Therapieevaluation und Prozessbegleitung
Weiterführende Inhalte:
Fremd- und Selbstanamnese
Psychopathologischer Befund
Erfassung psychosozialen Funktionsniveaus
Innere/äußere Lebenswelt (kultureller Kontext, Familienbeziehungen, Erziehungsstil)
Verhaltens- & Spielbeobachtung: Exploration kindlichen Verhaltens und Interaktionen
Intelligenzabklärung: Sorgfältige Abwägung empfohlen
Ziel: Auslösende und aufrechterhaltende Faktoren herausarbeiten zur Therapieindikation, -planung und -evaluation
Diagnostik in der psychodynamischen Therapie
Beginn: Schon bei Erstkontakt (Übertragung, Gegenübertragung, Widerstand)
Fokus: Retrospektive, lebensgeschichtliche Entwicklung ergänzend zur Symptom-Erfassung
Wichtige Beobachtungen:
Nonverbale Kommunikation, affektive Reaktionen
Beziehungsepisoden (dyadisch/triadisch)
Instrument zur Strukturierung: OPD-KJ-2 mit vier Achsen
Beziehung: Übertragung/Gegenübertragung, Beziehungsqualität
Konflikt: Nähe–Distanz, Selbstwert, Schuld, Ödipal, Identität
Struktur: Steuerung, Identität, Interpersonalität, Bindung (psychisches Funktionsniveau)
Behandlungsvoraussetzungen: Motivation, Ressourcen, Hypothesen zur Störungsentstehung
Ziel: Herausarbeiten auslösender und aufrechterhaltender psychodynamischer Prozesse hinter den Symptomen sowie Nutzung vorhandener Ressourcen.
Diagnostik in der Systemischen Therapie
Systemfokus: Individuum als Teil eines Beziehungs-/Interaktionssystems (Familie, Schule etc.), nicht als isolierter “Symptomträger”
Ressourcenorientierung: Betonung vorhandener Stärken statt Defizit-Fokus
Ätiologie: Systemische Hypothesenmodelle statt starrer Krankheitskategorien
Rollenverständnis: Therapeutinnen als Kommunikations- und Kooperationspartnerinnen
Multimethodaler Ansatz:
Gespräche mit mehreren Systemmitgliedern
Verhaltensbeobachtungen
Projektive Verfahren
Ziel: Entwicklung flexibler Modellvorstellungen des Problemsystems zur Therapieindikation, -planung und Evaluation
Urteiler*innenbias
Definition: Verzerrungen & Heuristiken, denen auch erfahrene Diagnostiker*innen unterliegen; beeinflussen Entscheidungsfindung im gesamten diagnostischen Prozess.
Hauptheuristiken
Repräsentativitätsheuristik: Beurteilung nach Prototypähnlichkeit – Gefahr, seltene/atypische Fälle zu übersehen.
Ankereffekt: Festhalten an der Ersthypothese trotz widersprechender Befunde.
Weitere Fehlerquellen:
Unsystematische Befunderhebung
Einsatz diagnostischer Instrumente mit unzureichender Objektivität, Reliabilität, Validität
Empfehlungen zur Reduktion:
Diagnosekriterien vollständig & sorgfältig prüfen
Komorbiditäten abklären, Differentialdiagnosen einbeziehen
Regelmäßige Fortbildung & Supervision
Nutzung reliabler/valider Instrumente, ergänzend Verhaltensbeobachtung
Klassifkationssysteme
Übergeordnetes Ziel
Vielzahl klinischer Bilder zu klar definierten Störungsklassen bündeln, um Kommunikation, Differentialdiagnostik und Therapieplanung zu erleichtern
ICD-10 / ICD-11 (F-Kapitel)
Weltweit verbindlich; umfasst alle Krankheiten, F0–F9 decken psychische Störungen ab (z. B. F3 Affektive, F8 Entwicklungs-, F9 Verhaltens- und emotionale Störungen)
Deskriptiv-atheoretisch; separate Kapitel für kinder- und jugendspezifische Störungen vorhanden, aber nicht immer vollständig (Regulationsstörungen fehlen)
DSM-5
Nur psychische Störungen; detaillierte Kriterien, in Forschung & Praxis (v. a. USA/Europa) weit verbreitet
Entwicklungsbezogene Anpassungen für frühe Lebensphasen vorhanden, aber weiterhin primär für Erwachsene erarbeitet; Anwendung bei kleinen Kindern daher eingeschränkt
DC:0-5 (ZERO-TO-THREE) – spezifisch für 0 – 5 Jahre
Berücksichtigt altersspezifische Entwicklungs- und Beziehungskontexte stärker als ICD/DSM
5 Achsen:
Klinische Störungen (7 Grundkategorien)
Beziehung zur primären Bezugsperson
Medizinische Konditionen / Entwicklungsstörungen
Psychosoziale Belastungsfaktoren
Emotionales Entwicklungs- & Funktionsniveau
MAS – Multiaxiales Klassifikationssystem nach ICD-10 (Kinder & Jugendliche)
Multifaktorielle Betrachtung des Störungsbildes; vorwiegend deskriptiv, theoretisch neutral
6 Achsen:
Klinisch-psychiatrisches Syndrom
Umschriebene Entwicklungsstörung
Intelligenzniveau
Körperliche Symptomatik
Aktuelle psychosoziale Umstände
Globalbeurteilung psychosozialen Funktionsniveaus (0–8)
Diagnostische Verfahren
Grundprinzip
Dimensionale und kategoriale Diagnostik ergänzen sich ← hoher Fragebogen-Score ≠ automatisch Diagnose
Fragebogen = Symptomschwere / Häufigkeit; Interviews = vollständige Diagnosekriterien (Zeit, Ausschluss, Leidensdruck)
Kategoriale Interviews
Kinder-DIPS-OA (6–18 J.; DSM-5 & ICD-10; Kind- + Elternversion)
J-DIPS (Jugend: inkl. Abhängigkeits- & Borderline-Module)
SIVA 0-6 (3 Mon.–6 J. 11 Mon.; modulare Altersabschnitte, z. B. exzessives Schreien, ADHS; Auswertung nach DSM-5, ICD-10, DC:0-5)
Dimensionale Multi-Informant*innen-Fragebögen
CBCL/6-18R – TRF/6-18R – YSR/11-18R → 8 identische Problembereiche; 3 Gesamtskalen; 15-20 min
SDQ (25 Items, 5 Skalen; 4–17 J.; Eltern, Lehr, Selbst; frei verfügbar)
SCL-90-R / BSCL (ab 16 J.; 9 bzw. 7 Symptomskalen)
KIDSCREEN-10 / 27 / 52 (gesundheitsbezogene Lebensqualität, 8–18 J.)
CGI-S / CGI-I (1-Item-Rating Schweregrad bzw. Veränderung, 7-stufig)
Fragebogen Allgemeine Selbstwirksamkeit (10 Items, 4-stufige Likertskala)
Auswahlkriterien für Fragebögen
Objektivität, Reliabilität, Validität, Testfairness, Umfang & Aktualität der Normen
Prüfen, ob Ausfüller*in (z. B. Kind) sprachliche / kognitive Fertigkeiten besitzt
Praxishinweise
Kombination von Selbst-, Eltern-, Lehrpersonenberichten erhöht Validität
Bei Kleinkindern: Beobachtung + Elterninterview unverzichtbar
Ergebnisse dienen Symptomklärung, Therapieindikation, Verlaufs- & Ergebnisevaluation
Verhaltensbeobachtung
Bedeutung: Zentrales Erhebungsinstrument zur Feinanalyse von Verhaltensweisen und Temperamentsfaktoren; erfasst auch Ressourcen, Therapiefortschritt & Generalisierungseffekte.
Beobachtungsziele: Häufigkeit, Intensität, Auslöser & Konsequenzen spezifischer Verhaltensmuster (z. B. Tics, Hausaufgabenverhalten, soziale Kompetenzen).
Bias-Reduktion: Beobachtung im Voraus planen; Einsatz von Beobachtungsskalen & Videoaufzeichnungen.
Standardisierte Verfahren (KJP):
ADOS-2 – Diagnostik Autismus-Spektrum-Störung
BAT (Behavioral Avoidance Test) – Erfassung phobischer Vermeidung
Fremde-Situations-Test (Ainsworth) – Bindungsverhalten bei Kleinkindern
Entwicklungs- und Intelligenzdiagnostik
Zweck Entwicklungsdiagnostik: Feststellen, ob Entwicklung in Kognition, Sprache, Motorik etc. altersgerecht verläuft / Defizite bestehen
Zweck Intelligenzdiagnostik: Bestimmung des kognitiven Leistungsstands (Schuleignung, Über-/Unterforderung, Teilleistungsstärken / -schwächen); Abklärung, ob Konzentrations-/Verhaltensstörungen mit Intelligenz zusammenhängen
Verbreitete Intelligenztests:
K-ABC-2 (3–18 J.)
WISC-V (6–16 J.)
IDS-2 (5–20 J.; umfasst Intelligenz und Entwicklungsskalen)
SON-R 2-8 (sprachfreier Nonverbaltest)
Auswahlkriterien: Alter des Kindes, Erfüllung von Objektivität / Reliabilität / Validität, Passung zur klinischen Fragestellung
Durchführungshinweise: Diagnostiker*in muss Testmaterial gut kennen; Testung in leistungsförderndem Setting (morgens, ausgeruht, ausreichende Sprach-, Seh-, Hörfähigkeit; ggf. Medikation berücksichtigen)
Ausblick
Schlüsselrolle: Diagnostik bleibt zentrale Voraussetzung für Therapie & Evaluation.
Herausforderung: Multimodaler & Multi-informant*innen-Ansatz + kindliche Entwicklungsbesonderheiten ⇒ oft Eltern-Kind-(Nicht-)Übereinstimmung.
Vermeidung von Fehldiagnosen: Standardisierte Vorgehensweisen und Instrumente mit guter Objektivität, Reliabilität & Validität einsetzen.
Berichterstattung: Transparente, konsistente Dokumentation des diagnostischen Prozesses wird in Therapiestudien (z. B. Angststörungen) bereits empfohlen.
Forschungsbedarf: Mehr gut evaluierte Diagnostikinstrumente speziell für Kinder & Jugendliche wünschenswert.
Beantwortete Lernfragen
Nenne mindestens 5 Aufgaben des diagnostischen Prozesses
Exploration der Symptomatik – Selbst- & Fremdbericht
Kategoriale / klassifikatorische Diagnostik nach ICD/DSM
Komorbiditäts- & Differenzialdiagnostik
Erfassung von Kompetenzen & Ressourcen (individuell, sozial, familiär)
Klärung von Therapieerwartungen & -zielen
Verlaufs-, Prozess- & Erfolgsdiagnostik
Achsen des Multiaxialen Klassifikationsschemas (MAS)
Umschriebene Entwicklungsstörungen
Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände
Globalbeurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus
Kategoriale vs. dimensionale Diagnostik
Kategorial: Einordnung in klar definierte Kategorien; berücksichtigt Zeitkriterium, Ausschlusskriterien, Leidensdruck (Bsp.: Kinder-DIPS).
Dimensional: Erfassung der Symptomschwere auf einem Kontinuum (Frequenz/Intensität) (Bsp.: Fragebogen CBCL/6-18R).
Achsen der OPD-KJ-2 mit Beispielen
Beziehung – Übertragung & Gegenübertragung
Konflikt – Nähe vs. Distanz, Selbstwert-, Schuld-, Ödipaler Konflikt …
Struktur – Steuerung, Identität, Interpersonalität, Bindung
Behandlungsvoraussetzungen – Motivation, Ressourcen
Systemische Kritik an Diagnosen
Diagnosen sind zu individualistisch; Probleme entstehen in Interaktionen des Systems.
Defizitorientierung verdrängt Ressourcenblick.
Ätiologie & Aufrechterhaltung systemischer Faktoren werden nicht ausreichend abgebildet.
Zuletzt geändertvor 19 Tagen