Historische und moderne Perspektiven
Historische Wurzeln des Rechts über Leben und Tod
Ursprung: Früher war das Recht über Leben und Tod eines der charakteristischsten Privilegien des Souveräns.
Patria Potestas: Diese Macht geht auf das römische Familienrecht zurück, bei dem der Familienvater (Paterfamilias) über Leben und Tod seiner Kinder und Sklaven entscheiden konnte.
Entwicklung des Rechts in der politischen Theorie
In den klassischen Theorien wurde dieses Recht (aka Privileg) abgeschwächt. Der Souverän darf es nur ausüben, wenn seine Existenz bedroht ist – als Recht der Gegenwehr.
Innere Bedrohung: Wenn jemand gegen den Staat und seine Gesetze verstößt, kann der Souverän direkt über Leben und Tod entscheiden (z.B. durch Todesstrafe).
Äußere Bedrohung: Der Souverän kann in einen Krieg ziehen, um sich und den Staat zu verteidigen. Dies setzt Untertanen Gefahr, ohne sie direkt zu töten.
Es entsteht hierdurch ein indirektes Recht über Leben und Tod.
Asymmetrische Macht und die Symbolik des Rechts
Das Recht über Leben und Tod ist asymmetrisch: Der Souverän übt Macht aus, indem er entscheiden kann, ob jemand lebt oder stirbt.
Veränderungen in der Machtstruktur
Früher: Die Macht des Souveräns war vor allem eine Form der "Abschöpfung" von Reichtümern, Arbeit und Leben. Es ging um Kontrolle über materielle und immaterielle Ressourcen.
Heute: Die Macht hat sich verändert. Sie zielt weniger auf die "Vernichtung" des Lebens, sondern auf die Verwaltung und Steigerung des Lebens.
Es geht um die Kontrolle und das Wachstum der Bevölkerung, der Arbeitskraft, des Wohlstands.
Das Recht über Leben und Tod in der modernen Gesellschaft
In modernen Gesellschaften wird das Recht über Leben und Tod im Kontext von Lebensbewirtschaftung verstanden:
Der Tod wird nicht mehr als Selbstzweck genutzt, sondern als notwendige Konsequenz der Verteidigung des Lebens.
Die Gesellschaft hat das Leben ihrer Mitglieder zu „verwalten“, was sich auch in der Kriegsführung zeigt.
Aber diese ungeheure Todesmacht kann sich zum Teil gerade deswe- gen mit solchem Elan und Zynismus über alle Grenzen ausdehnen, weil sie ja nur das Komplement einer positiven »Lebensmacht« darstellt, die das Leben in ihre Hand nimmt, um es zu steigern und zu vervielfältigen, um es im einzelnen zu kontrollieren und im gesamten zu regulieren.
Kriege im modernen Kontext
Kriege des 19. Jahrhunderts und später waren nicht nur auf den Schutz eines Souveräns ausgerichtet, sondern auf das Überleben der gesamten Gesellschaft.
Regierungen führten Kriege im Namen des Lebens und Überlebens der ganzen Bevölkerung. Dies brachte auch eine neue Form von Massenvernichtung mit sich.
Der Einsatz der modernen Kriegstechnologie (z.B. Atomwaffen) hat die Kriegsführung auf die Ebene des Überlebens ganzer Bevölkerungen gehoben.
Völkermord und das Prinzip "Töten, um zu leben"
Der Völkermord ist keine Rückkehr zu einem alten Recht des Tötens, sondern eine Folge der modernen Macht, die auf der Verwaltung und Kontrolle des Lebens basiert.
Die Macht, über Leben und Tod zu entscheiden, hat sich nicht nur auf die Souveränität, sondern auf die biologische Existenz von Bevölkerungen ausgeweitet.
Schlussfolgerung: Der Übergang zur "Lebensmacht"
Die Macht in modernen Gesellschaften liegt nicht nur in der Tötung von Feinden, sondern in der Kontrolle des Lebens der Bevölkerung, was zu einer neuen, fatalen Art der Kriegsführung und staatlichen Gewalt führt.
Das Recht über Leben und Tod ist heute oft eine Entscheidung über das Überleben oder die Vernichtung ganzer Bevölkerungen, anstatt über Einzelpersonen oder spezifische Souveräne.
Die Todesstrafe und die Verwaltung des Lebens
Historische Rolle der Todesstrafe
Die Todesstrafe war lange Zeit neben dem Krieg eine zentrale Form des Rechts des Souveräns.
Sie war die Antwort des Souveräns auf Verletzungen seines Willens oder seiner Gesetze.
Abnahme der Todesstrafe und Zunahme der Kriege
Todesstrafe: Wurde immer seltener vollzogen, insbesondere im Vergleich zu den vielen Opfern, die in Kriegen sterben.
Ursache: Diese Veränderung hängt mit der Verwaltung des Lebens zusammen. Die Macht hat sich darauf konzentriert, das Leben zu sichern und zu verwalten, nicht mehr es zu nehmen.
Die Veränderung der Macht und der Todesstrafe
Die Macht, die das Leben schützen soll, hat sich von der alten Praxis des Töten (als Recht des Souveräns) zu einer Macht entwickelt, die das Leben stärkt, ordnet und verteidigt.
Die Anwendung der Todesstrafe wird immer schwieriger, weil sie ein Widerspruch zu dieser neuen Lebenspolitik darstellt.
Neue Perspektive auf das Töten
Statt des Tötens als Ausdruck der Macht, wird die Todesstrafe jetzt oft als extrem und skandalös angesehen.
Argumentation: Der Fokus liegt jetzt auf der Gefährlichkeit des Verbrechers für die Gesellschaft und weniger auf der Schwere des Verbrechens selbst.
Das Töten wird gerechtfertigt, wenn der Verbrecher als eine biologische Gefahr für die Gesellschaft dargestellt wird.
Wandel der Macht und ihre Beziehung zum Tod
Früher war der Tod das Symbol der Souveränität und wurde durch Rituale begleitet.
Heute ist der Tod das Ende der Macht. Die Macht verwaltet das Leben und zieht sich aus dem Moment des Todes zurück. Der Tod wird nun als privat und geheim angesehen.
Der Selbstmord und das Recht über Leben und Tod
Der Selbstmord war einst ein Verbrechen, weil er das exklusive Recht über Leben und Tod, das dem Souverän zustand, in Frage stellte.
Im 19. Jahrhundert begannen Soziologen, den Selbstmord als ein soziales Phänomen zu untersuchen. Es zeigte das individuelle und private Recht auf Sterben, das der politischen Macht entglitten war.
Der Tod als "privatester" Moment
Der Tod wird zunehmend als der geheimste Punkt der Existenz angesehen, der sich der politischen Macht entzieht.
Der Selbstmord und die private Entscheidung zum Sterben sind daher ein rätselhaftes Phänomen in einer Gesellschaft, die sich auf die Verwaltung des Lebens konzentriert.
Entwicklung der Macht zum Leben seit dem 17. Jahrhundert
Zwei Hauptformen der Macht zum Leben
Seit dem 17. Jahrhundert hat sich die Macht zum Leben in zwei Hauptformen entwickelt, die eng miteinander verbunden sind:
Pol 1: Macht, die sich um den Körper als Maschine zentriert.
Pol 2: Macht, die sich um die Population (biologische Prozesse) zentriert.
Pol 1: Der Körper als Maschine
Ziel: Die Dressur und Steigerung der Körperfähigkeiten.
Techniken: Ausnutzung der Kräfte des Körpers, Erhöhung der Nützlichkeit und Gelehrigkeit.
Disziplinen: Fokus auf politische Anatomie, also die Kontrolle und das Management des Körpers.
Beispiele: Schulen, Internate, Kasernen, Fabriken.
Wichtige Funktion: Diese Form der Macht hat den Körper als Teil eines Kontrollsystems in den Mittelpunkt gestellt, das die Leistungsfähigkeit und Disziplin der Individuen maximiert.
Pol 2: Die Bio-Politik
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden neue Techniken zur Regulierung der Population.
Fokus: Lebensprozesse wie Geburtenrate, Sterblichkeitsrate, Gesundheitsniveau und Lebensdauer.
Bio-Politik: Maßnahmen zur Regulierung und Kontrolle der Bevölkerung, basierend auf biologischen Prozessen und dem Wohlstand der Gesellschaft.
Zusammenführung der beiden Pole
Beide Pols – Disziplin des Körpers und Regulierung der Bevölkerung – sind miteinander verknüpft und bilden zusammen die Grundlage einer neuen Lebensmacht.
Ziel: Maximierung und Durchsetzung des Lebens. Die alte Macht des Todes (Souveränität) wird durch die Kontrolle über den Körper und das Leben ersetzt.
Entwicklung im 18. Jahrhundert
Disziplinen: Institutionen wie Armee, Schule, Internate zielen darauf ab, den Körper zu disziplinieren und zu kontrollieren.
Bevölkerungsregulierungen: Demografie, Ressourcenmanagement, Gesundheitskontrollen, Zirkulation von Reichtümern.
Wichtige Denker: Quesnay, Moheau, Süssmilch beschäftigten sich mit der Analyse und Regulierung von Bevölkerung und Ressourcen.
Philosophische Theorie und Ideologie
Ideologie als Lehre der individuellen Entstehung von Empfindungen und der Gesellschaftsstruktur.
Theorien über das Lernen, den Vertrag und die Formierung der Gesellschaft wurden entwickelt, um diese beiden Machttechniken (Regulierung und Disziplinierung) zu vereinen.
Verknüpfung der Disziplinen und Bevölkerungsregulierungen
Die Verknüpfung dieser Techniken der Macht geschah nicht nur spekulativ, sondern durch konkrete Dispositionen, die sich in praktischen Anwendungen manifestierten.
19. Jahrhundert: Diese Verknüpfung führte zu einer großen Technologie der Macht, die die Gesellschaft stärker beeinflusste.
Das Sexualitätsdispositiv
Eines der zentralen Instrumente dieser Machttechnologie war das Sexualitätsdispositiv.
Bedeutung: Es wurde eine Technologie entwickelt, um Sexualität und Reproduktion in die Machtausübung einzubinden, die die Kontrolle über das Leben noch weiter verstärkte.
Bio-Macht und ihre Rolle im Kapitalismus
Bio-Macht als Grundlage des Kapitalismus
Bio-Macht spielte eine entscheidende Rolle in der Entwicklung des Kapitalismus. Sie ermöglichte:
Kontrollierte Integration des Körpers in die Produktionsprozesse.
Anpassung der Bevölkerungsphänomene an ökonomische Prozesse.
Der Kapitalismus benötigte mehr als nur Arbeitskraft; er verlangte Wachstum und Stärkung des Körpers und der Bevölkerung, um deren Nutzbarkeit und Gelehrigkeit zu maximieren.
Techniken der Bio-Macht
Im 18. Jahrhundert entwickelten sich politische Anatomie und Biologie als Machttechniken, die auf allen Ebenen des Gesellschaftskörpers angewendet wurden (z.B. in Familien, Armee, Schulen, Polizei, medizinische Einrichtungen).
Diese Techniken beeinflussten:
Ökonomische Prozesse und die Kräfte, die sie unterstützten.
Die Sicherung von Herrschaftsbeziehungen und Hegemonien.
Bevölkerungswachstum und Kapitalakkumulation wurden durch Bio-Macht koordiniert.
Die Verbindung von Kapital- und Bevölkerungsakkumulation
Die Anpassung des Bevölkerungswachstums an die Expansion der Produktionskräfte war ein zentrales Element.
Die Verteilung des Profits und die Verwaltung der Arbeitskraft wurden durch die Bio-Macht ermöglicht.
Die Rolle der asketischen Moral im frühen Kapitalismus
Häufig wurde betont, dass eine asketische Moral im ersten Stadium des Kapitalismus wichtig war, um den Körper zu disqualifizieren und zur Disziplin zu erziehen.
Doch ein anderes, möglicherweise wichtiges Phänomen trat im 18. Jahrhundert auf: der Eintritt des Lebens in die Geschichte.
Das Leben tritt in die politische Ordnung ein
Im 18. Jahrhundert trat das Leben der menschlichen Gattung in die Ordnung des Wissens und der Machtein:
Es ging nicht nur um den Tod, sondern um das Leben als politisches Thema.
Der Druck des Biologischen auf das Historische war jahrtausendelang stark (z.B. durch Seuchen und Hungersnöte), aber dieser Einfluss wurde zunehmend durch den Zuwachs an Wissen und Technologiegemildert.
Entwicklungen wie verbesserte landwirtschaftliche Techniken und das Verständnis des Lebens trugen dazu bei, die Bedrohungen des Todes zu verringern.
Die Entstehung einer "Bio-Politik"
Mit dem wachsenden Wissen über das Leben und den menschlichen Körper, konnte die Macht beginnen, Lebensprozesse zu kontrollieren und zu modifizieren:
Wissen und Macht begannen sich zu verbinden, um das Leben zu transformieren.
Bio-Politik bezeichnet den Eintritt des Lebens in die Kalküle der Macht. Es geht nicht mehr nur um das Verhindern des Todes, sondern um die Verantwortung für das Leben.
Die Macht hat es nun mit Lebewesen zu tun, deren Leben auf politischer Ebene verwaltet wird.
Die Herausforderung des Lebens für die Macht
Trotz der zunehmenden Kontrolle über das Leben bleibt es resistent gegenüber den Techniken der Macht. Das Leben entzieht sich weiterhin in vielen Bereichen der Kontrolle.
Außerhalb der westlichen Welt bleibt Hunger ein größeres Problem, und die biologischen Gefährdungen der Gattung sind möglicherweise ernster als je zuvor.
Moderne Bio-Politik
Die „biologische Modernitätsschwelle“ einer Gesellschaft zeigt sich in der Art und Weise, wie politische Strategien sich auf das Überleben der gesamten Gattung konzentrieren.
Der moderne Mensch ist kein bloßes politisches Wesen mehr, sondern ein Wesen, dessen Leben als Lebewesen aktiv in die politische Existenz integriert wird.
Bio-Macht, Recht und das Leben als politisches Thema
Verhältnis zwischen Leben und Geschichte
Der Bruch im wissenschaftlichen Diskurs und die neue Problematik des Lebens und des Menschen entstanden durch das neue Verhältnis zwischen:
Leben als biologisches Umfeld der Geschichte.
Leben als Teil der menschlichen Geschichtlichkeit, durchdrungen von Wissens- und Machttechniken.
Expansion der politischen Technologien
Seit dem 18. Jahrhundert haben sich politische Technologien entwickelt, die den gesamten Raum des Lebens betreffen:
Körper, Gesundheit, Ernährung, Wohnen und Lebensbedingungen.
Diese Technologien besetzen und regulieren zunehmend die Existenz der Menschen.
Von der Souveränität zum Funktionieren der Norm
Früher war das Gesetz stark mit der Drohung des Todes verbunden, der ultimativen Waffe der Souveränität.
In der modernen Bio-Macht geht es jedoch nicht mehr um den Tod, sondern um die Regulierung des Lebens:
Es werden fortlaufende regulierende und korrigierende Mechanismen eingesetzt.
Normen sind nun der Maßstab, nach dem das Leben organisiert wird. Anstelle von Feinden und Untertanen gibt es nun eine Norm, die Subjekte ausrichtet.
Das Gesetz wird zur Norm
Das Gesetz selbst verliert seine ursprüngliche Form und Funktion:
Es wird zunehmend als Norm verstanden und die Justiz wird in regulierende Apparate integriert (z.B. Gesundheits- und Verwaltungsapparate).
Eine Normalisierungsgesellschaft ist das Ergebnis dieser neuen Machttechnologie.
Der Rückgang des Rechts und das Aufkommen der Bio-Macht
Trotz der Einführung moderner Verfassungen und einer Vielzahl von Gesetzgebungen nach der Französischen Revolution:
Das Rechtliche ist im Rückgang, während die Bio-Macht stärker geworden ist.
Die ständig fortschreitende Gesetzgebung ist eine Form, um die normalisierende Macht zu legitimieren.
Widerstand gegen die Bio-Macht
Im 19. Jahrhundert begannen die Widerstandskräfte gegen die Bio-Macht, sich auf das Leben als politisches Thema zu berufen.
Der Widerstand war nicht mehr auf den Rückgriff auf alte Rechte ausgerichtet, sondern zielte auf das Leben:
Politische Kämpfe drehten sich um die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse, das Recht auf Leben, Gesundheit, Glück und Selbstverwirklichung.
Das "Recht" auf Leben und gegen das System der Bio-Macht
Das Leben wurde zum Hauptgegenstand politischer Kämpfe:
„Recht auf das Leben“ wurde zu einer Forderung gegen das System, das die Kontrolle über das Leben übernommen hatte.
Es ging nicht mehr nur um Rechtsansprüche, sondern um die Emanzipation des Lebens aus der Kontrolle des bestehenden Systems.
Das neue „Recht“ und seine politische Bedeutung
Das „Recht“ auf das Leben wurde als politische Antwort auf die neuen Machttechniken formuliert:
Ein neues Rechtssystem, das nicht auf den traditionellen Konzepten der Souveränität basiert, sondern auf dem Leben als politischem Thema.
Zuletzt geändertvor 11 Tagen