Buffl

Michel de Certeau: Kunst des Handelns

AG
von Adele G.

Bahnungen

1. Entwicklung der Argumentation

  • Dichotomisches Schema: Anfangs wurde das Verhältnis zwischen Konsumenten und Produktionsdispositiven als zu dichotomisch betrachtet.

  • Drei Hauptwege der Entwicklung:

    1. Suche nach Problematiken: Material, das verwendet werden kann, um bestimmte Themen darzustellen.

    2. Beschreibung von Praktiken: Signifikante alltägliche Handlungen wie Lesen, Sprechen, Gehen, Kochen, etc.

    3. Ausdehnung der Analyse: Diese alltäglichen Praktiken werden auf wissenschaftliche Bereiche angewendet, die scheinbar einer anderen Logik folgen.

2. Bahnungen, Taktiken und Rhetoriken

  • Konsumenten als stille Produzenten: Konsumenten sind "verkannte Produzenten", die durch ihre Signifikationspraktiken "Irr-Linien" bilden – unvorhersehbare, teils unlesbare Verbindungen.

  • Technokratisch strukturierter Raum: In einem Raum der funktionalistischen Rationalität bewegen sich Konsumenten und formen Bahnen, die von den bestehenden Systemen nicht erfasst werden können.

  • Gängige Vokabulare: Diese Bahnen entstehen aus den Vokabeln des Alltags (Fernsehen, Zeitung, Supermarkt, Museen), jedoch durchbrechen sie die vorgegebenen Ordnungen und Syntax.

3. Statistik und ihre Begrenzungen

  • Unzureichende Erfassung durch Statistik: Die Statistik klassifiziert und berechnet die "lexikalischen" Einheiten, die diese Bahnen bilden, aber sie erfasst nicht deren Form und die Art der Kombination.

  • Zerlegung und Zerstückelung: Die statistische Analyse zerlegt die Praktiken in definierte Einheiten und übersieht die heterogenen Geschichten und Aktivitäten, die das Alltägliche ausmachen.

  • Homogenität der statistischen Resultate: Statt Vielfalt zu zeigen, reproduziert die Statistik nur das bestehende System.

4. Die "Bahn" als Metapher

  • Bahn als Bewegung und Projektion: Eine "Bahn" ist nicht nur eine Bewegung, sondern auch eine zweidimensionale Darstellung einer Tätigkeit.

  • Graphische Transkription: Handlungen werden durch eine Graphik (überschaubare Linie) ersetzt, die eine irreversible zeitliche Reihenfolge durch eine reversible Linie (lesbar in beide Richtungen) darstellt.

5. Unterscheidung zwischen Taktiken und Strategien

  • Taktiken: Alltagspraktiken, die sich durch Improvisation und Erfindungsreichtum auszeichnen.

  • Strategien: Sind langfristige, strukturierte Pläne oder Systeme, die die Konsumenten in den vorgegebenen Rahmen einordnen.


Taktiktypen und Rhetorik

1. Rhetorik und Taktiktypen

  • Rhetorik als Modell für Taktiken: Die Rhetorik bietet Modelle, die beschreiben, wie Sprache als Mittel der Manipulation genutzt wird.

    • Ort und Gegenstand der Rhetorik: Sprache kann sowohl der Ort als auch das Objekt von Manipulation sein.

    • Abhängigkeit von Umständen: Die Wirkung von Sprache und Überzeugung hängt von den Umständen ab, in denen man den Willen des Anderen beeinflussen kann (z.B. durch Verführung oder Überredung).

2. Zwei Handlungslogiken

  • Taktische Handlungslogik: (Diese Logik bezieht sich auf Handlungen, die in den gegebenen Umständen und der Sprache selbst begründet sind.)

  • Strategische Handlungslogik: (Im Gegensatz dazu steht die strategische Logik, die auf langfristige Planung und Kalküle fokussiert ist, oft mit einem festen "Ort" und Ziel.)

3. Rhetorik und die Kunst des Handelns

  • Sophisten als frühe Taktiker: Die Sophisten, insbesondere Korax, wollten die Kunst meistern, die "schwächste" Position zur "stärksten" zu machen.

    • Ziel der Sophisten: Sie wollten die Machtverhältnisse durch den gezielten Gebrauch der Umstände auf den Kopf stellen.

  • Einfluss der Sophisten: Sie gehörten zu den ersten, die eine Theorie entwickelten, die das Verhältnis zwischen Vernunft, Handeln und dem richtigen Moment (Augenblick) thematisierte.

4. Tradition und Geschichte der Taktiken

  • Langfristige Tradition: Die Taktiken der Sophisten setzen sich in einer langen Tradition von Reflexionen fort, die von der Kriegsführung des Sun Tze in China bis zur arabischen Anthologie "Das Buch der Listen" reichen.

  • Soziolinguistik als modernes Beispiel: Die Logik der Taktiken, die sich mit den Umständen und dem Wollen des Anderen auseinandersetzt, hat sich bis in die heutige Soziolinguistik weiterentwickelt.

Strategie vs. Taktik

1. Definition der "Strategie"

  • Strategie als Kalkül der Kräfteverhältnisse: Eine Strategie beinhaltet eine Berechnung von Machtverhältnissen, die von einem mächtigen Subjekt (z.B. Eigentümer, Unternehmen, Institution) durch die Ablösung von einer "Umgebung" möglich wird.

  • Voraussetzungen: Setzt einen eigenen Ort voraus, der als Basis für die Organisierung von Beziehungen dient (z.B. zu Konkurrenten, Gegnern, Klienten, Forschungszielen).

  • Rationalität: Politische, ökonomische und wissenschaftliche Rationalität baut auf diesem strategischen Modell auf.

2. Definition der "Taktik"

  • Taktik als Kalkül ohne eigenes Fundament: Im Gegensatz zur Strategie kann die Taktik nicht mit etwas Eigenem rechnen und hat keinen festen Ort, von dem aus sie ihre Kräfte kapitalisieren kann.

  • Abhängigkeit von der Zeit: Die Taktik ist zeitabhängig und kann nur "im Fluge" den Vorteil ergreifen. Sie ist ständig darauf angewiesen, mit den Ereignissen zu spielen und günstige Gelegenheiten zu nutzen.

  • Keine Basis für Expansion oder Unabhängigkeit: Taktiken können nicht in einem festen Ort festgehalten oder ausgebaut werden.

3. Beispiele und Merkmale von Taktiken

  • Alltagspraktiken mit taktischem Charakter: Sprechen, Lesen, Einkaufen, Kochen sind Beispiele für alltägliche Taktiken, in denen Vorteile im Moment ergriffen werden.

  • Taktiken als Fertigkeiten: Taktiken sind oft die Mittel des Schwächeren gegenüber dem Stärkeren (z.B. gegenüber mächtigen Institutionen oder äußeren Umständen).

  • Metis: Der griechische Begriff für die Intelligenz des Schwachen, der sich durch listige, taktische Handlungen durchsetzt.

  • Kontinuität und Beständigkeit: Taktiken haben historische Wurzeln und sind auch in der Natur (z.B. bei Pflanzen oder Tieren) zu finden.

4. Taktiken im Kontext der modernen Gesellschaft

  • Zerfall von Ortsbeständigkeit: In modernen Gesellschaften, die von Unsicherheit geprägt sind, vermehren sich Taktiken. Sie geraten "aus der Bahn", so als ob sie ihre Verankerung in einer festen Gemeinschaft verlieren.

  • Brownsche Bewegung: Taktiken führen eine Art zufällige, aber stetige Bewegung in das System ein, das zu groß oder zu eng für die Individuen ist, um darin einen festen Platz zu finden.

  • Gleichsetzung von Konsumenten und Immigranten: In modernen Systemen werden Konsumenten zu Immigranten, da beide keine festen Orte mehr haben und in einem System agieren, das sie nicht vollständig kontrollieren können, dem sie aber auch nicht entkommen können.

5. Taktiken und Intelligenz

  • Intelligenz in den alltäglichen Kämpfen: Taktiken machen deutlich, wie stark die Intelligenz von den täglichen Kämpfen und den Situationen abhängt, die sie miteinander verknüpft.

  • Strategien und Macht: Im Gegensatz dazu verbergen Strategien ihre Beziehung zur Macht und sichern ihre Position durch objektive Kalküle und Institutionen.

Lektüre als Alltagspraktik

1. Lektüre als bedeutende Alltagspraktik

  • Lektüre als Höhepunkt der Konsumgesellschaft: Lektüre, in allen Formen (Bücher, Zeitungen, Werbung, Fernsehen), ist ein zentrales Merkmal der modernen Gesellschaft. Sie steht im Zentrum der gegenwärtigen Kultur und bewertet die Realität nach ihrer Fähigkeit, zur Schau gestellt zu werden.

  • Gesellschaft der Schau und des Sehens: In dieser Gesellschaft wird jede Kommunikation und jedes Medium zu einem Wandern des Auges.

2. Lektüre als passive Produktion

  • Stillproduktion durch Lektüre: Lektüre scheint passiv, ist jedoch eine Form der stillen Produktion. Sie umfasst das Überfliegen von Texten, das Wandern des Auges und das Improvisieren von Bedeutungen, die durch einzelne Wörter ausgelöst werden.

  • Vergessen durch Lesen: Der Leser "verliert" beim Lesen Zeit, da er das Gelesene nicht unbedingt behält, es sei denn, er macht Aufzeichnungen. Als Ausgleich kauft er das Objekt (z.B. Buch) als Ersatz für verlorene Zeit.

3. Der Leser als „Wilderer“ im Text

  • Lektüre als Aneignung: Der Leser „wildert“ im Text eines anderen, wird von ihm getragen und vervielfacht sich in ihm. Diese Lektüre verwandelt das zu Lesende in Erinnerungen und unzählige Geschichten.

  • Text als bewohnbarer Raum: Der Text wird dadurch bewohnbar – ähnlich wie ein Mieter eine Wohnung gestaltet. Der Text wird für den Moment des Lesens zu einem Ort, der sich den Wünschen des Lesers anpasst.

    • “Sie verwandelt das Eigentum des Anderen für einen Moment in einen Ort, den sich ein Passant nimmt.”

4. Alltagspraktiken als kreative Transformation

  • Verwandlung durch Sprache und Gesten: Leser, Redner und Fußgänger verwandeln ihre Umgebung durch ihre Handlungen, indem sie ihre eigenen Geschichten und Wünsche in den Text, die Sprache oder den Raum einfließen lassen.

  • Metaphorische Nutzung von Codes: Gesellschaftliche Codes und Normen werden von den Individuen kreativ umgeformt und in Metaphern und Ellipsen ihrer Bestrebungen verwandelt.

5. Konsum und die „Kunst des Mietens“

  • Konsum als subtile Kunst: Die Konsumpraktiken der Gegenwart ähneln der Kunst des „Mietens“, in der Individuen die gesellschaftlichen Normen und Texte durch ihre persönlichen Handlungen und Interpretationen kreativ umgestalten.

  • Die Entwicklung der "Semiokratie": Die Gesellschaft hat sich in eine „Semiokratie“ verwandelt, in der die Lektüre nicht mehr nur passiv ist, sondern aktiv die eigene Kreativität und Identität hervorbringt.

6. Historische Perspektive auf Text und Lektüre

  • Text im Mittelalter: Im Mittelalter war der Text in mehrere Leseformen eingebettet und basierte auf einer Überlieferung, die durch den Leser interpretiert wurde.

  • Moderne Technokratie und Schrift: Heute ist der Text nicht mehr nur ein Buch, sondern die Gesellschaft selbst wird zu einem textlichen, anonymen Produktionsgesetz.

7. Vergleich zur Rhetorik der Konversation

  • Konversation als verbale Produktion: Ähnlich wie die Lektüre ist die Konversation eine Form der „Kreation“, bei der die Sprecherpositionen und das Geflecht der Kommunikation kollektiv und provisorisch sind.

  • Transformation der „Sprechsituation“: In der Konversation werden die „Sprechsituation“ und die „Gemeinplätze“ kreativ gehandhabt, um zu einem gemeinsamen Verständnis zu kommen.

8. Praktiken der Alltagsbewältigung

  • Kochkunst und Örtlichkeiten: Die Alltagspraktiken umfassen nicht nur die Lektüre, sondern auch die Nutzung von Räumen und die Kunst des Kochens. Diese Praktiken helfen dabei, eine Vertrautheit mit erlebten Situationen zu entwickeln und bieten eine Möglichkeit, durch mobile Interessen und Vergnügen neue Perspektiven zu schaffen.

Author

Adele G.

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