Teil 1: Sprache, Schrift und das Ende des Ursprungs
Das Problem „Sprache“ ist kein gewöhnliches Problem, sondern ein zentrales Symptom unserer Epoche.
Heute wird die Sprache abgewertet:
„Niederträchtigkeit des Vokabulars“, „Verführung“, „Mode“, „Ignoranz“.
Inflation der Sprache = Inflation des Zeichens selbst.
Diese Krise zeigt: Die Epoche muss die Totalität ihrer Probleme als Sprachprobleme erkennen.
„Die Inflation des Zeichens ‚Sprache‘ ist die Inflation des Zeichens selbst.“
Sprache droht „aus den Fugen gerissen und entwurzelt“ zu werden.
Ihre Grenzen verschwimmen, sie verliert Sicherheit.
Sprache ist nicht mehr „selbstgewiss“, sondern konfrontiert mit ihrer eigenen Endlichkeit.
🪶 Verschiebung
Seit mindestens 2000 Jahren: Alles, was „Sprache“ hieß, verschiebt sich nun in den Namen Schrift.
Schrift überschreitet die Sprache:
Nicht mehr nur „Hilfsform“.
Nicht „doppeltes Supplement“ oder „sekundäres Abbild“ (wie Rousseau sagte).
„Der Begriff der Schrift scheint zusehends die Extension der Sprache zu überschreiten.“
🔁 Schrift als „Signifikant des Signifikanten“
Früher galt Schrift als sekundär (Verdopplung eines gesprochenen Originals).
Derrida: Schon immer war das Signifikat selbst ein Signifikant → Alles ist Teil eines Spiels der Verweisungen.
Kein fester Ursprung („Ursignifikat“), sondern unendliches Spiel.
„Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme.“
„Heraufkunft der Schrift“ = Heraufkunft des Spiels.
Alle scheinbar festen Signifikate werden „mitgerissen“.
Die Grenze, die Zeichen und Bedeutungen kontrollieren sollte, zerfällt.
Ergebnis: Destruktion des Begriffs „Zeichen“ selbst.
„Das Spiel löscht die Grenze aus, von der aus man die Zirkulation der Zeichen meinte regeln zu können.“
Derrida sagt: Der westliche Sprachbegriff ist eine Verstellung einer tieferen, ursprünglichen Schrift.
Diese „erste Schrift“ ist fundamentaler als das, was man bisher als bloßes „Supplement“ zur Sprache sah.
„Eine Schrift, die viel grundlegender ist als jene, die als einfaches Supplement zum gesprochenen Wort galt.“
Das Vorrangrecht der gesprochenen Stimme (phone) war nicht frei gewählt, sondern geschichtlich notwendig:
Bestimmte „Ökonomie“ des Lebens, Geschichte, Seins.
Schrift galt lange nur als Technik im Dienst der Sprache:
Übersetzung eines vollständigen, gegenwärtigen Wortes.
Vermittlung, nicht Ursprung.
💡 Schrift = Technik?
Frage nach der Schrift ist tiefer als die Frage nach Technik.
Schriftfrage geht der Technikfrage voraus, oder beide sind ineinander verflochten.
Deshalb kann man Technik nicht einfach als Schlüssel zum Verständnis der Schrift verwenden.
„Die Frage nach Schrift und Technik gehen ineinander über.“
Verlust von Gewissheit, Auflösung der Grenzen.
Sprache zeigt ihre Endlichkeit.
Schrift wird nicht nur Hilfsmittel, sondern ursprüngliches Prinzip.
Signifikat selbst ist immer schon Signifikant → Alles ist „Spiel“.
Kein „ursprüngliches“, reines Signifikat.
Nur Verweisungen ohne letzte Basis → „Spur“, „Schriftlichkeit“.
Das Spiel der Zeichen ersetzt feste Bedeutungsanker.
Begriff „Zeichen“ wird dekonstruiert.
Schriftfrage tiefer als Technikfrage.
Keine „Instrumentalisierung“ der Schrift durch Sprache.
Begriff
Früheres Verständnis
Derridas Verständnis
Sprache
Ursprünglich, authentisch, primär
Verstellung, nicht Ursprung
Schrift
Sekundär, Abbild der Sprache
Ursprüngliches Prinzip, tiefste Struktur
Zeichen
Stabiler Träger von Bedeutung
Nur Teil eines endlosen Spiels
Technik
Werkzeug der Sprache
Untrennbar mit Schrift verknüpft
Sprache war immer schon Schrift. Das „Spiel“ der Zeichen ist endlos. Kein Ursprung, nur Spuren.
Teil 2: Sprache, Schrift und das Ende der Buchkultur
Sprache ist kein absolut eigenständiger Ursprung, sondern:
Ein Moment, ein Modus, ein „Aspekt“ der Schrift.
Nur im Verlauf eines „Abenteuers“ (nämlich der Geschichte) konnte sie sich als autonom darstellen.
„Sprache könnte nur ein Moment der Schrift sein.“
Tod der Buchkultur = Anzeichen einer Mutation der Schrift.
Dahinter: „Tod des gesprochenen Wortes“ → gemeint als Metapher!
Das gesprochene Wort wird nicht verschwinden, sondern seine untergeordnete Stellung einnehmen.
„‚Tod des gesprochenen Wortes‘ ist hier eine Metapher.“
Begriffserweiterung
Früher: „Sprache“ = universaler Ausdruck für Denken, Gefühl, Erfahrung.
Heute: „Schrift“ ersetzt „Sprache“ als umfassender Begriff.
„Schrift“ bezeichnet nicht nur Zeichen auf Papier:
Auch Film (Kinematographie), Tanz (Choreographie), Musik, Bild, Skulptur, militärische und politische Praktiken.
Sogar in der Biologie: Genetik als „Programm“, „Schrift der Zelle“.
„Heute neigt man dazu, für alles ‚Schrift‘ zu sagen.“
Auch die Kybernetik arbeitet mit Konzepten von „Schrift“, „Spur“, „Programm“.
Selbst wenn die Kybernetik ohne metaphysische Begriffe (Seele, Leben, Gedächtnis) auskommt → sie braucht den Begriff der Schrift.
„Gramma oder Graphem wäre der Name für das Element.“
Gramma = ursprüngliches Element aller Zeichenprozesse.
Weder einfach noch atomar, sondern:
Ur-Synthese, die nicht als „Erfahrung“, „Ursprung“ oder „Sinn“ fixierbar ist.
Widersteht allen klassischen Gegensätzen (innen/außen, Geist/Körper, universell/empirisch).
„Dieses Element wäre kein einfaches.“
Diese „Situation“ ist nicht neu, aber erst jetzt wird sie erkannt.
Gründe (Auswahl):
Entwicklung der Mathematik (schon früh unabhängig von phonischer Sprache).
Wissenschaft und Mathematik stellen das „Ideal der phonetischen Schrift“ in Frage.
Phonographie und neue Speichertechniken trennen Sprache vom „anwesenden Sprecher“.
Mathematik nie abhängig von Lauten.
Zeigt die Unzulänglichkeit der phonetischen Schrift.
Mathematik = Enklave innerhalb phonischer Kulturen → radikale Infragestellung von „episteme“ und „historia“ (Wissen & Geschichte).
„Die Mathematik war nie ganz an eine phonetische Produktion gebunden.“
Phonetische Schrift = Zentrum der westlichen Kultur (Metaphysik, Wissenschaft, Technik, Ökonomie).
Diese Schrift erreicht ihre Grenzen:
Versucht, sich auf alle Kulturen auszudehnen.
Gleichzeitig stößt sie auf Widerstände → „Humanwissenschaften“ und Kybernetik dekonstruieren sie.
„Die phonetische Schrift stößt an ihre Grenzen, wo sie ihr Gesetz allen aufzwingen will.“
Kein absoluter Ursprung, sondern Teil eines umfassenderen Systems.
Umfasst alle Formen der Zeichen, Medien, Programme, biologischen Codes.
Fundament aller Zeichenprozesse.
Widersteht klassischen Gegensätzen.
Neue Medien & Wissenschaften zeigen ihre Grenzen.
Keine Herrschaft der Stimme oder phonetischen Präsenz mehr.
Kein ursprünglicher „Sinn“, keine reine Präsenz.
Nur Spuren, Verschiebungen, Spiel der Zeichen.
Derridas Sicht
Ursprung, präsent, autonom
Moment der Schrift, nicht Ursprung
Abbild der Sprache, sekundär
Grundstruktur, umfassend
Gramma
Nicht vorhanden
Ursprüngliches Element
Phonetik
Zentrum, Stimme = Sinn
Begrenztes Medium, dekonstruiert
„Sprache war immer schon Schrift. Die phonetische Stimme ist nur eine Episode. Am Ende bleibt: das Spiel der Spuren.“
Zuletzt geändertvor 8 Tagen