Buffl

Gattungen als Institutionen

AG
von Adele G.

Grundgedanken und Voßkamps Sicht

1. Grundgedanke

  • Wenn Gattungen Institutionen sind, dann ist ein „Novellenroman“ keine Gattung, weil er sich nicht verfestigt und in kein Lexikon aufgenommen wurde.

  • Institutionen bedeuten Festigkeit und Dauer, auch wenn sie immateriell sind.

  • Vorteile institutioneller Verfestigung:

    • Orientierung: man weiß, was man schreibt.

    • Schutz vor Chaos: man kann sich „einrichten“ (lat. institutio = Einrichtung).

  • Literarische Gattungen als Institutionen: sie sind soziale Tatsachen (institutional facts, Searle), nicht nur wissenschaftliche Kategorien.

2. Voßkamps Sicht: Literarisch-soziale Institutionen

  • Voßkamp (1977): Gattungen = literarisch-soziale Institutionen

    • Historische und soziale Konstellationen müssen bei der Analyse berücksichtigt werden.

    • Gattung = Antwort auf literarische und soziale Bedürfnisse → „Bedürfnissynthese“.

  • Autoren beeinflussen Gattungen durch:

    • normbildende Werke (Prototypen)

    • Interaktion zwischen Gattungserwartungen und Werkantworten

3. Dynamik der Gattungsgeschichte 🔄

  • Gattungen entwickeln sich langsamer als ihre soziale Umgebung (relative Autonomie).

  • Prozesse:

    1. Auskristallisieren: erste Formen erscheinen

    2. Stabilisieren: Merkmale werden dominanter

    3. Institutionelles Festwerden: Gattung erhält Eigengewicht

  • Gattungen sind damit strukturell verzögert, reagieren nicht unmittelbar auf gesellschaftliche Veränderungen.

4. Konsequenzen für die Gattungsgeschichtsschreibung

  • Aufgabe: Gesetze der Gattungsevolution verstehen

  • Gattungen = Antwort auf mehrere Faktoren zugleich:

    • andere literarische Texte

    • Traditionen

    • Erwartungen der Rezipienten

    • gesellschaftliche Bedürfnisse

    • historische Konstellationen

5. Kernidee

  • Literarische Gattungen als Institutionen zu verstehen bedeutet:

    • Sie existieren unabhängig von einzelnen Autoren, haben aber Einfluss auf deren Werke.

    • Sie sind dynamische Systeme, die sich entwickeln, stabilisieren und gleichzeitig die soziale Welt spiegeln.


Beispiel Robinsonade

1. Ausgangspunkt: Die Robinsonade

  • Daniel Defoe, Robinson Crusoe (1719): Prototyp der Robinsonade

  • Funktion: Antwort auf literarische Traditionen wie:

    • Reise- und Abenteuerromane

    • sozial-utopische Texte

  • Ermöglicht: Gattungsbildung im 18. Jahrhundert → große Zahl von Nachfolge-Romanen → Kanonisierung der Robinsonade

  • Modelldefinition Voßkamp:

    • „fiktive Reisegeschichte und Darstellung zeitweiliger insularer Abgeschlossenheit, erzählt aus der Perspektive des Selbsterlebten“

2. Literarisches Feld und Selektionsprozesse

  • Konkurrenz und Alternativen im Romanfeld:

    1. Gattungsnah → z. B. picareske Erzählformen, authentische Reiseberichte, einfache Schreibart

    2. Gattungsfern → galante Romane, kunstvoll und höfisch, andere Schreibart

  • Voßkamp spricht von selektiver Funktion: Robinsonade ist „adäquate Antwort“ auf historische und gesellschaftliche Bedingungen

3. Dynamik der Gattung

  • Kontinuität vs. Variation:

    • Leser erwarten bestimmte Merkmale des Prototyps → Variationen innerhalb bekannter Struktur

    • Variationen entwickeln sich in spezifische Richtungen

  • Merkmale der deutschen Robinsonade (Beispiele):

    • Zunehmendes Reise- und Abenteuermotiv

    • Abnehmende Bedeutung der Inseldarstellung

    • Arbeit und Selbstgenügsamkeit erhalten idyllisches Moment

    • Subjektproblem: Robinson als Modell für individuellen Bildungsweg

4. Übergang zum Bildungsroman

  • Deutsche Robinsonade trägt zur Entstehung des Bildungsromans bei:

    • Definition Bildungsroman (Voßkamp): „fiktive Darstellung der Bildung eines individuellen Charakters in der konfliktreichen Auseinandersetzung mit der äußeren Realität“

  • Dynamik:

    • Verschiebung des Romanangebots

    • Neubewertung von Romanformen

    • Anpassung an neues Lesepublikum und veränderte Erwartungen

5. Robinsonade als Institution 🏛️

  • Bezug zum Begriff der Institution (Gehlen, Voßkamp):

    • Weit gefasst: Quasiautomatische Gewohnheiten von Denken, Fühlen, Handeln

    • Eng gefasst: Einrichtungen, die Kontinuität garantieren

  • Robinsonade als institutionalisierte Gattung:

    • Leser wissen, welche Elemente zu erwarten sind

    • Autoren wissen, welche Erwartungen sie erfüllen müssen

    • Selbst bei Varianten („Schlesischer Robinson“, „Österreichischer Robinson“) ist die Gattung eindeutig erkennbar

6. Kernidee

  • Die Robinsonade ist eine institutionalisierte Gattung:

    • Sie existiert nicht nur als Text, sondern als gesellschaftlich erwartetes Muster

    • Gattungen als Institutionen sichern Kontinuität, erlauben aber Variation und Evolution innerhalb definierter Grenzen

    • Dies erklärt, wie sich die Robinsonade historisch zum Bildungsroman entwickelt


Voßkamps Ansicht anhand der Robinsonade

. Robinsonade als bewusst gewähltes Beispiel

  • Voßkamp wählt Robinsonaden nicht zufällig:

    • Der Name „Robinson“ ist Label und Selbstdarstellung der Texte

    • Titel signalisieren:

      • Zugehörigkeit zu einer Textgruppe

      • Erwartbare Handlung, Themenkreis, Protagonistentyp, Schreibweise

  • Täuschung der Stabilität:

    • Der Name suggeriert, dass die Gattung unverändert ist

    • Tatsächlich verändern sich die Texte unterhalb der Oberfläche (z. B. Hinwendung zum Bildungsroman)

2. Verzögerung und Institutionalität

  • Institutionalität wird sichtbar durch Verzögerung der Benennungen:

    • Institutionen ändern sich nicht von selbst; nur Zwang oder allmähliche Verschiebung führt zur Veränderung

    • Der unveränderte Gattungsname symbolisiert Kontinuität

  • Jeder Text verändert seine Gattung ein Stück weit → Leser von 1723 vs. Leser von 1752 haben unterschiedliche Erwartungen

3. Warum der Gattungsbegriff konstant bleibt

  • Gattungen als Institution erklären nicht die Geschichtlichkeit, sondern warum die Bezeichnung stabil bleibt:

    • Beispiel Tragödie: Name bleibt, Bedeutung hat sich über Jahrtausende verändert

    • Auch institutioneller Ort (Aufführungen, Rituale, Kulturpraxis) trägt zur Stabilität bei

4. Institutionalisierung im literarischen System

  • Gattungen erhalten Institutionenstatus, wenn:

    1. Exemplare einen institutionellen Ort in Kultur oder Literatur haben

    2. Abstraktion von der Vielfalt der Exemplare erfolgt

  • Konstanz der Gattungsnamen wird dadurch garantiert, Wandel bleibt implizit

  • Beispiele:

    • Klassisches Nô-Spiel (Japan) → institutioneller Ort, stabile Bezeichnung

    • Sächsischer Robinson → Autor trägt bewusst zur Institutionalisierung bei

5. Mechanismen der Institutionalisierung

  • Beteiligte Akteure:

    • Autoren (Titelwahl, Orientierung am Prototyp)

    • Verlage, Rezensenten (Gattungszuweisungen)

    • Literaturgeschichten (Kanonisierung, Festlegung von Mustern)

  • Kanonisierung: Werke werden zu unüberbietbaren Prototypen der Gattung

  • Effekt: Institutionalisierung ist nicht normativ schlecht, sondern unvermeidbar und stabilisierend

6. Kernidee

  • Gattungen als Institutionen:

    • Name bleibt stabil, Inhalte ändern sich

    • Institutionalisierung erfolgt durch kollektive Praxis, Titelwahl, Kanonisierung

    • Veränderungen werden oft implizit durch Texte und Leserwahrnehmung weitergegeben


Author

Adele G.

Informationen

Zuletzt geändert