Grundgedanken und Voßkamps Sicht
Wenn Gattungen Institutionen sind, dann ist ein „Novellenroman“ keine Gattung, weil er sich nicht verfestigt und in kein Lexikon aufgenommen wurde.
Institutionen bedeuten Festigkeit und Dauer, auch wenn sie immateriell sind.
Vorteile institutioneller Verfestigung:
Orientierung: man weiß, was man schreibt.
Schutz vor Chaos: man kann sich „einrichten“ (lat. institutio = Einrichtung).
Literarische Gattungen als Institutionen: sie sind soziale Tatsachen (institutional facts, Searle), nicht nur wissenschaftliche Kategorien.
Voßkamp (1977): Gattungen = literarisch-soziale Institutionen
Historische und soziale Konstellationen müssen bei der Analyse berücksichtigt werden.
Gattung = Antwort auf literarische und soziale Bedürfnisse → „Bedürfnissynthese“.
Autoren beeinflussen Gattungen durch:
normbildende Werke (Prototypen)
Interaktion zwischen Gattungserwartungen und Werkantworten
Gattungen entwickeln sich langsamer als ihre soziale Umgebung (relative Autonomie).
Prozesse:
Auskristallisieren: erste Formen erscheinen
Stabilisieren: Merkmale werden dominanter
Institutionelles Festwerden: Gattung erhält Eigengewicht
Gattungen sind damit strukturell verzögert, reagieren nicht unmittelbar auf gesellschaftliche Veränderungen.
Aufgabe: Gesetze der Gattungsevolution verstehen
Gattungen = Antwort auf mehrere Faktoren zugleich:
andere literarische Texte
Traditionen
Erwartungen der Rezipienten
gesellschaftliche Bedürfnisse
historische Konstellationen
Literarische Gattungen als Institutionen zu verstehen bedeutet:
Sie existieren unabhängig von einzelnen Autoren, haben aber Einfluss auf deren Werke.
Sie sind dynamische Systeme, die sich entwickeln, stabilisieren und gleichzeitig die soziale Welt spiegeln.
Beispiel Robinsonade
Daniel Defoe, Robinson Crusoe (1719): Prototyp der Robinsonade
Funktion: Antwort auf literarische Traditionen wie:
Reise- und Abenteuerromane
sozial-utopische Texte
Ermöglicht: Gattungsbildung im 18. Jahrhundert → große Zahl von Nachfolge-Romanen → Kanonisierung der Robinsonade
Modelldefinition Voßkamp:
„fiktive Reisegeschichte und Darstellung zeitweiliger insularer Abgeschlossenheit, erzählt aus der Perspektive des Selbsterlebten“
Konkurrenz und Alternativen im Romanfeld:
Gattungsnah → z. B. picareske Erzählformen, authentische Reiseberichte, einfache Schreibart
Gattungsfern → galante Romane, kunstvoll und höfisch, andere Schreibart
Voßkamp spricht von selektiver Funktion: Robinsonade ist „adäquate Antwort“ auf historische und gesellschaftliche Bedingungen
Kontinuität vs. Variation:
Leser erwarten bestimmte Merkmale des Prototyps → Variationen innerhalb bekannter Struktur
Variationen entwickeln sich in spezifische Richtungen
Merkmale der deutschen Robinsonade (Beispiele):
Zunehmendes Reise- und Abenteuermotiv
Abnehmende Bedeutung der Inseldarstellung
Arbeit und Selbstgenügsamkeit erhalten idyllisches Moment
Subjektproblem: Robinson als Modell für individuellen Bildungsweg
Deutsche Robinsonade trägt zur Entstehung des Bildungsromans bei:
Definition Bildungsroman (Voßkamp): „fiktive Darstellung der Bildung eines individuellen Charakters in der konfliktreichen Auseinandersetzung mit der äußeren Realität“
Dynamik:
Verschiebung des Romanangebots
Neubewertung von Romanformen
Anpassung an neues Lesepublikum und veränderte Erwartungen
Bezug zum Begriff der Institution (Gehlen, Voßkamp):
Weit gefasst: Quasiautomatische Gewohnheiten von Denken, Fühlen, Handeln
Eng gefasst: Einrichtungen, die Kontinuität garantieren
Robinsonade als institutionalisierte Gattung:
Leser wissen, welche Elemente zu erwarten sind
Autoren wissen, welche Erwartungen sie erfüllen müssen
Selbst bei Varianten („Schlesischer Robinson“, „Österreichischer Robinson“) ist die Gattung eindeutig erkennbar
Die Robinsonade ist eine institutionalisierte Gattung:
Sie existiert nicht nur als Text, sondern als gesellschaftlich erwartetes Muster
Gattungen als Institutionen sichern Kontinuität, erlauben aber Variation und Evolution innerhalb definierter Grenzen
Dies erklärt, wie sich die Robinsonade historisch zum Bildungsroman entwickelt
Voßkamps Ansicht anhand der Robinsonade
Voßkamp wählt Robinsonaden nicht zufällig:
Der Name „Robinson“ ist Label und Selbstdarstellung der Texte
Titel signalisieren:
Zugehörigkeit zu einer Textgruppe
Erwartbare Handlung, Themenkreis, Protagonistentyp, Schreibweise
Täuschung der Stabilität:
Der Name suggeriert, dass die Gattung unverändert ist
Tatsächlich verändern sich die Texte unterhalb der Oberfläche (z. B. Hinwendung zum Bildungsroman)
Institutionalität wird sichtbar durch Verzögerung der Benennungen:
Institutionen ändern sich nicht von selbst; nur Zwang oder allmähliche Verschiebung führt zur Veränderung
Der unveränderte Gattungsname symbolisiert Kontinuität
Jeder Text verändert seine Gattung ein Stück weit → Leser von 1723 vs. Leser von 1752 haben unterschiedliche Erwartungen
Gattungen als Institution erklären nicht die Geschichtlichkeit, sondern warum die Bezeichnung stabil bleibt:
Beispiel Tragödie: Name bleibt, Bedeutung hat sich über Jahrtausende verändert
Auch institutioneller Ort (Aufführungen, Rituale, Kulturpraxis) trägt zur Stabilität bei
Gattungen erhalten Institutionenstatus, wenn:
Exemplare einen institutionellen Ort in Kultur oder Literatur haben
Abstraktion von der Vielfalt der Exemplare erfolgt
Konstanz der Gattungsnamen wird dadurch garantiert, Wandel bleibt implizit
Beispiele:
Klassisches Nô-Spiel (Japan) → institutioneller Ort, stabile Bezeichnung
Sächsischer Robinson → Autor trägt bewusst zur Institutionalisierung bei
Beteiligte Akteure:
Autoren (Titelwahl, Orientierung am Prototyp)
Verlage, Rezensenten (Gattungszuweisungen)
Literaturgeschichten (Kanonisierung, Festlegung von Mustern)
Kanonisierung: Werke werden zu unüberbietbaren Prototypen der Gattung
Effekt: Institutionalisierung ist nicht normativ schlecht, sondern unvermeidbar und stabilisierend
Gattungen als Institutionen:
Name bleibt stabil, Inhalte ändern sich
Institutionalisierung erfolgt durch kollektive Praxis, Titelwahl, Kanonisierung
Veränderungen werden oft implizit durch Texte und Leserwahrnehmung weitergegeben
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