Form und Gattung: Äußere vs. innere Form
Bei der Gattungsbestimmung spielt die Form eine entscheidende Rolle.
Form ist eng mit Inhalt/Stoff verbunden: „Wo Form ist, da kann Inhalt nicht ausbleiben“.
Viele Gattungsnamen enthalten bereits Formmerkmale:
Vers-Epos → Versform
Prosastück → Prosa
Poesie: Reim, Strophe
Äußere Form = direkt sichtbare Strukturmerkmale, z. B.:
Prosa- oder Versform
Strophenform, Reimform
Rahmenform, Briefform
Innere Form = „Organisation der äußeren Form“ (Zymner nach Vietor)
Schwierig zu fassen; Beispiel Sonett:
Äußere Form → feste Versstruktur
Innere Form → „spezifische Lösung der Spannung von Geist und Gefühl“
Bezieht sich auf poetische Prinzipien, die die äußere Form organisch leiten (Goethe: Naturformen der Poesie)
Wellek & Warren (1949) unterscheiden:
Outer Form (äußere Form): Metrum, Struktur
Inner Form (innere Form): Haltung, Ton, Zweck, Gegenstand, Publikum
Beispiele:
Hirtendichtung → innere Form (Gegenstand)
Satire → innere Form (Haltung)
Dipodische Verse, Pindarische Ode → äußere Form
Innere und äußere Form können unterschiedliche Merkmale betonen, abhängig vom Gattungsnamen:
Abenteuerroman → innere Form (Handlung, Motivation)
Novellenroman → äußere Form (Struktur, Aufbau)
Form ≠ Inhalt, aber Form wird oft implizit durch alles definiert, was nicht in der Inhaltsangabe vorkommt
Faustregel: Alles, was nicht in einer Inhaltsangabe vorkommt, gehört zur Form.
Das zeigt, dass die Form fast alles umfasst, was über den bloßen Stoff hinausgeht: Stil, Struktur, Organisation, Perspektive.
Kernidee: Die Gattung wird sowohl durch sichtbare äußere Merkmale als auch durch unsichtbare innere Prinzipien bestimmt. Diese Differenzierung hilft zu verstehen, warum Gattungen trotz inhaltlicher Vielfalt als erkennbare, stabile Kategorien existieren.
Gattung, Inhalt, Form und Queneaus „Exercices de Style“
Nach Wellek & Warren:
Form bestimmt die Gattung
Inhalt ist für die Bestimmung der Gattung nicht relevant
Inhaltsangaben spiegeln die Form des Originals nicht wider, sondern nur den Inhalt.
Beispiel: Streng formulierte Inhaltsangabe zeigt nicht, ob es sich um Gedicht, Prosastück, Drama oder Satire handelt.
Idee: 99 Varianten derselben Begebenheit → unterschiedliche Formen und Gattungen
Begebenheit: junger Mann im Pariser Bus, Konflikt wegen getretener Füße, später Gespräch vor dem Bahnhof
Umsetzung:
Sprachliche Experimente
Gattungsvariation: z. B. Komödie (Dreiakter), Ode, Sonett
Konsequenz: Inhalt bleibt gleich, Form ändert sich radikal → Gattung wird durch Form sichtbar, nicht durch Inhalt
Dieselbe Begebenheit erzeugt unterschiedliche Eindrücke, je nach Form:
Im Sonett wirkt der Inhalt anders als in der Prosa oder Komödie
Einige Details gehen verloren, andere werden umschrieben oder verfälscht
Erkenntnis: Form beeinflusst, wie der Inhalt wahrgenommen wird
Frage:
Ist die Gattung „gleichgültig gegenüber dem Inhalt“, wie ein Gefäß, das beliebig gefüllt werden kann?
Oder enthält die Faustregel über die Inhaltsangabe bereits Elemente der Form, die wir fälschlich als Inhalt ansehen?
Fazit: Inhalt ohne Form existiert nicht – auch eine Inhaltsangabe ist bereits eine Form.
Kernidee:
Gattung = Form, nicht Inhalt
Queneau demonstriert dies eindrucksvoll: derselbe Inhalt kann 99 Gattungen annehmen
Die Wahrnehmung des Inhalts hängt von der Form ab, daher verschwimmen die Grenzen zwischen Inhalt und Form teilweise
Form-Inhalt-Theorien und Jolles’ „Einfache Formen“
Zymner unterscheidet fünf idealtypische Modelle, wie Form und Inhalt zusammenhängen können:
Gefäßtheorie:
Form ist wie ein Gefäß, Inhalt wie die Füllung.
Für bestimmte Inhalte gibt es idealtypische Formen (Krug, Karton, Sieb).
Begleitungstheorie:
Form und Inhalt sind weitgehend unabhängig, treten aber in bestimmten Kombinationen wieder auf.
Beispiel: dieselbe Begebenheit könnte ein Drama, eine Satire oder ein Gedicht sein.
Organismustheorie:
Form und Inhalt sind untrennbar verbunden.
Ihre Einheit liegt in der inneren Form, dem Organisationsprinzip des Textes.
Morphologische Auffassung:
Form ist äußerlich wahrnehmbar, wesentlich und wiederkehrend in mehreren Texten.
Form entwickelt sich „von selbst“; Inhalt kann unterschiedlich sein.
Gehaltsästhetische Auffassung:
Inhalt ist wesentlich, Form ist nur Mittel zum Transport des Gehalts.
Gattungsfrage wird sekundär.
Beurteilung:
Außer der gehaltsästhetischen Theorie sind alle Modelle aus gattungstheoretischer Sicht bis zu einem gewissen Grad plausibel, aber jeweils für verschiedene Fälle geeignet.
Stilübungen wie bei Queneau widersprechen der gehaltsästhetischen Theorie, da hier Form Vorrang vor Inhalthat.
Morphologische Theorie: Form hat gestaltbildende Kraft, unabhängig vom Inhalt.
Bezug auf Goethes „Naturformen der Dichtung“: Formen entstehen organisch aus der inneren Dynamik der Sprache.
Zentrale Quelle: André Jolles, „Einfache Formen“ (1930)
Fokus auf neun einfachen Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz
Diese Formen entstehen aus der Sprache selbst, nicht aus der Schöpfung eines Dichters
Sie sind kulturell anthropologisch begründet:
Kultur braucht feste Formen, um sich selbst zu ordnen und zu deuten
Jede Kulturhandlung ist auch eine Form der Selbstdeutung
Legende: Darstellung der Taten eines vorbildhaften Menschen → Beschäftigung mit Nachahmbarkeit
Sage: Auseinandersetzung mit Herkommen, Familie, Blutsverwandtschaft
Mythe: Verbindung zur Wahrsage und Erklärung der Welt
Rätsel: Beschäftigung mit Wissen und Erkenntnis
Spruch: Zusammenfassung von Erfahrung
Kasus, Memorabile, Märchen, Witz: Weitere Formen, jeweils mit eigener „Sprachgebärde“ und spezifischer geistiger Funktion
Ziel: Jede Form repräsentiert eine kulturelle Grundtätigkeit und entsteht quasi „von selbst“ in der Sprache
Morphologische Auffassung: Form ist zentral, Inhalt sekundär.
Jolles’ Ansatz zeigt, dass kulturelle und sprachliche Zwänge Formen hervorrufen, unabhängig vom konkreten Inhalt.
Vergleich zu Queneau: Stilübungen zeigen künstlich, dass derselbe Inhalt in unterschiedliche Formen gebracht werden kann – Jolles sucht hingegen natürliche, sprachlich entstehende Formen.
Kernideen:
Form ≠ Inhalt, aber sie prägt die Wahrnehmung des Inhalts
Morphologische Theorie betont die Kraft der Form
Jolles liefert kulturell- und sprachanthropologische Begründungen für die Entstehung einfacher Formen
Literatur entsteht also aus Formprinzipien, die unabhängig von individuellen Inhalten wirken
Zuletzt geändertvor 2 Monaten