Welche Fragen kann man sich in Bezug auf Sprachwandel stellen?
organistische Frage
Warum ändert sich Sprache?
(Ist es die gesellschaftliche Entwicklung?)
mechanistische Frage
Wie? Verändert die Sprache sich oder verändern Sprecher ihre Sprache?
-> Fragen falsch gestellt
Keller: Gedanken zur mechanistischen Frage
Problem
Lösung
Verändert die Sprache sich oder verändern Sprecher ihre Sprache?
Problem dabei
Hier wird Sprache so betrachtet:
Sprachwandel als intentionaler, willentlicher Akt
Sprache als vom Menschen hergestelltes Artefakt, das von Menschen auch nach Belieben verändert werden können
-> nicht richtig, aber zu bedenken: intentionaler Sprachwandel existiert durchaus, z.B. Rechtschreibreformen
Mögliche Lösung durch genauere Formulierung:
„Die Sprecher verändern ihre Sprache; aber sie tun es nicht intentional und nicht planvoll, sondern unbewußt.“
kein Erklärungsgehalt
Keller: Gedanken zur organistischen Frage
Wo wird Frage häufig aus dieser Perspektive betrachtet?
Verdinglichung
Keller sagt, Sprache ist kein Ding -> aber wenn man die Frage so stellt, verdinglicht man Sprache
Vitalisierung
wir machen ein belebtes Ding aus Sprache, wenn wir die Frage so stellen
Anthromorphisierung
wir vermenschlichen Sprache
Sprache als Organismus häufig in Theorien des 18./ und 19. Jahrhunderts
-> findet Keller nicht plausibel: „So wird unversehens aus dem artspezifischen Kommunikationsverfahren des homo sapiens sapiens ein animal rationale mit allerhand wundersamen Fähig- keiten.“
Was sieht Keller als Ursache dafür, dass wir diese “falschen” Fragen zum Sprachwandel stellen?
wir denken vorallem in binären Kategorien (“Schwarz-Weiß-Denken”)
es gibt Dinge, die sich nicht in zwei Kategorien aufteilen lassen, dazu gehört auch Sprache
hat Anteile von natürlich + künstlich
Wie teilt Keller Dinge ein, die zu erklären sind?
Artefakte = ein Haus, das gebaut wird / eine Maschine, die gebaut wird -> künstlich geschaffen
Wie nennt Keller Dinge, die sich Dichotomien entziehen?
Wie kann man sie definieren?
Was ist ein wichtiger Bestandteil dieser Dinge?
Phänomene der dritten Art -> dazu gehört auch Sprache
Ergebnisse menschlicher Handlungen, aber nicht Ziel ihrer Intentionen
niemand hat geplant, dieses Ergebnis herbeizuführen
= eine Vielzahl von Menschen handelt mit einer bestimmten Absicht, die dazu führt, dass das Phänomen der dritten Art ensteht
i.d.R. kollektives Handeln
aber die Vielzahl von Menschen, die gehandelt hat, hatte nicht den Plan, dieses Phänomen entstehen zu lassen
z.B. Trampelpfad -> alle wollen Energie/ Zeit sparen, niemand möchte einen Trampelpfad anlegen
„Ein Phänomen der dritten Art ist die kausale Konsequenz einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen.“
Was ist Beispiele für Phänomene der dritten Art?
Beispiele für Phänomene der 3. Art
Stau aus dem Nichts
Trampelpfad auf einem Rasen
Entwicklungen auf dem Finanzmarkt
Wie entseht ein Stau aus dem Nichts?
alle verfolgen das gleiche Ziel = Abbremsen, um den Abstand zu erhalten; in letzter Konsequenz entsteht ein Stau -> aber niemand hatte den Absicht einen Stau entstehen zu lassen
“BEKLAG DICH NICHT ÜBER DEN STAU, DU BIST DER STAU”
Welche Fragen kann man sich in Bezug auf Phänomene der dritten Art stellen?
Wie kann man ihre Entstehung erklären?
-> Invisible-Hand-Erklärungen
Was haben sie mit Sprachwandel zu tun?
Was sind Invisible-hand-Erklärungen?
Eine Erklärung mittels der unsichtbaren Hand erklärt etwas, was wie das Ergebnis eines absichtsvollen Plans eines Menschen aussieht, auf eine Weise, die nichts mit irgendwelchen Absichten zu tun hat.“
Was muss eine Erklärung mittels der unsichtbaren Hand wiederspiegeln?
es gibt einen Prozess
es gibt eine Mikro- & eine Makroebene
haben sowohl mit Artefakten als auch mit Naturphänomenen gemeinsam
„Eine Erklärung mittels der unsichtbaren Hand spiegelt die drei wesentlichen Eigenschaften von Phänomenen der dritten Art wieder:
die Tatsache, daß sie prozessualer Natur sind;
die Tatsache, daß sie sich aus einer Mikro- und einer Makroebene konstituieren, und
die Tatsache, daß sie sowohl etwas mit Artefakten als auch mit Naturphänomenen gemeinsam haben.“
Welche Stufen enthält eine Invisible-Hand-Theorie?
„Eine Invisible-hand-Theorie enthält – idealtypisch ausformuliert – drei Stufen:
die Darstellung bzw. Benennung der Motive, Intentionen, Ziele, Überzeugungen (und dergleichen), die den Handlungen der Individuen, die an der Erzeugung des betreffenden Phänomens beteiligt sind, zugrunde liegen, einschließlich der Rahmenbedingungen ihres Handelns
z.B. Stau: Intention aller Fahrer*innen, den Abstand zu halten, nicht auf das vordere Auto aufzufahren
die Darstellung des Prozesses, wie aus der Vielzahl der individuellen Handlungen die zu erklärende Struktur entsteht;
z.B.: Stau -> wenn alle bremsen, entsteht Stillstand
die Darstellung bzw. Benennung der durch diese Handlungen hervorgebrachten Struktur.
Stau
Was ist eine Maxime?
Verhaltensregel
Sprachwandel bei dem Begriff “englisch”
Englisch bedeutet
engelhaft
Die erste Bedeutungsvariante ist aus unserer Sprache nahezu verschwunden, bis auf zwei Ausnahmen: Englisch- Horn (Horn, das ein Engel spielt), englischer Gruß (Gruß, den der Engel Maria bringt)
britisch
Fragen, die man sich stellen kann:
Warum ist die erste Bedeutung verschwunden?
Warum ist die erste & nicht die zweite Bedeutung verschwunden?
Englisch1 wird als Ableitung von Engel verstanden. Es gibt nahezu synonyme, nicht-homonyme alternative Ableitungen, z.B. engelsgleich. (Dies gilt nicht für englisch2).
Erklärung von Keller
Mitte des 19. Jhds.:
„Engelhaftigkeit“ als Idealbild der Frau
-> Verwendungsanlässe für englisch1 wurden erhöht
Industrialisierung: England rückt stärker in den Blick der deutschen Öffentlichkeit
Es entstand ein Homonymen-Konfliktpotential -> was ist eine englische Frau?
-> Der Invisible-Hand Prozess für englisch1
Durch die seltenere Verwendung von englisch1 gerät dieses Wort bei denen, die es kannten, allmählich in Vergessenheit.
Von vielen Sprechern der nachwachsenden Generation wird das Wort nicht mehr erlernt.
Zur Vermeidung der Verwendung kommt jetzt noch die Unfähigkeit der Verwendung hinzu.
Die Chance, dass das Wort richtig verstanden wird, sinkt damit.
Wörter, die selten verwendet werden, werden selten gelernt.
Kennt ein Hörer die Bedeutung eines Wortes nicht, so ist seine Chance verringert zu verstehen, was ein Sprecher mit einer Verwendung dieses Wortes meint.
Welche Arten von Maximen unterscheidet Keller?
statische Maximen
führen zu Homogenität bzw. Stase
können Sprachwandel nicht erklären
dynamische Maximen
Dies sind Maximen, die Dynamik erzeugen
können Sprachwandel erklären
Was ist ein Beispiel für eine Bedeutungsverengung (Differenzierung)?
früher: rüstig: ,kräftig, vital‘
heute: rüstig: ,kräftig, vital – für einen Menschen dieses Alters‘
Änderung der Gebrauchsregel:
„Wer heutzutage einen Zwanzigjährigen rüstig nennt, vollzieht einen Kalauer, wer einen Fünfundfünfzigjährigen rüstig nennt, vollzieht aller Voraussicht nach eine Belei- digung.“
gleiches Konzept bei dem Begriff “brav”
Beispiele für statische Maxime von Keller
Statische Maximen führen zu Homogenität bzw. Stase
“Rede so, wie Du denkst, daß der andere reden würde, wenn er an Deiner Statt wäre.”
ich versuche, das Sprechen des anderen zu antizipieren, mich hineinzuversetzen & optimiere damit die Kommunikation
führt zu einer ständigen Angleichung des Sprachgebrauchs
kann Sprachwandel nicht erklären
“Rede so, dass du als Gruppenangehöriger zu erkennen bist”
so findet auch kein Sprachwandel statt
Was sind Beispiele für dynamische Maximen?
Rede so, daß Du beachtet wirst.
z.B. Werbesprache
Rede so, daß Du als nicht zu der Gruppe gehörig
erkennbar bist
Rede amüsant, witzig etc.
Rede besonders höflich, schmeichelhaft, charmant etc.
Rede so, daß es Dich nicht unnötige Anstrengung kostet. (Maxime der Ökonomie)
Wie kann man die Maxime von Keller unter einer Obermaxime zusammenfassen?
Rede so, dass du sozial erfolgreich ist, bei möglichst geringen Kosten.
Wie kann ich meine Interessen bei möglichst geringer Anstrengung durchsetzen?
kommunikative Ziele sind unterschiedlich
Mögliche kommunikative Ziele
• eine Fahrkarte bekommen
• dieSchwiegermuttererschrecken
• das Wohlgefallen Gottes erregen
• die Sympathie der Busschaffnerin gewinnen usw.
Was müssen wir laut Keller beim Überlegen, wie wir Sprechen, immer abwägen?
Kosten VS. Nutzen
motorisch:
Artikulation
kognitiv:
Sprachplanung
Mit welchen Beispielen erläutert Zimmer seine Theorie zum Sprachwandel?
Sprachwandel bei der Bezeichnung von Frauen
Weib/ Frauenzimmer/ Frau
im Mittelhochdeutschen: Normale Bezeichnung für Frau = Weib -> heute abwertender Begriff
wenn man sich die Sprachgeschichte ansieht, wird sichtbar: Ausdrücke, die dazu dienen, auf Frauen zu referieren, unterliegen der Pejorisierung (= Bedeutungsverschlechterung)
früher: Frau = Begriff, der bestimmter Gesellschaftsschicht vorbehalten war, Frau = adelige Frau
unterliegt in dem Sinne auch einer Bedeutungsverschlechterung -> heutzutage werden alle Frauen als Frauen bezeichnet
Wie ist diese sprachliche Entwicklung zu erklären?
Invisible-hand-Erklärung: Galanteriegebot
“im Zweifelsfall greift man eine Gesellschaftsschicht zu hoch” -> man beginnt, alle Frauen und nicht nur adelige Frauen als Frauen zu bezeichnen -> eigentlich “normale” Bezeichnung geht verloren
Anzeichen dafür, dass das Gleiche irgendwann auch mit dem Begriff “Frau” passieren wird, man spricht z.B. von einer “Damentoilette” oder “Damenwahl”
Was ist ein Sonderfall von Sprachwandel?
Bedeutungswandel
Bedeutungsverengung
metaphorischer Wandel
metonymischer Wandel
Was sind Beispiele für metaphorischern Wandel?
Körperliche Merkmale für geistige Qualitäten:
dumm = (ursprgl.) stumm
doof = (ursprgl.) taub
blöde = (ursprgl.) schwach
Geistige Schwäche wird mit Bezeichnungen für körperliche Defizite umschrieben.
schlicht:
ursprünglich: einfach, natürlich
heute: Bezugnahme auf kognitive Fähigkeiten
Was sind Beispiele für metonymischen Wandel?
Metonymie = Ersetzung des eigentlichen Ausdrucks durch einen andern, der in naher sachlicher Beziehung zum ersten steht
Goethe ist schwer zu verstehen.
von der Person auf das Werk
Iss Deinen Teller auf.
von einem Gefäß auf den Inhalt
Das Bundespräsidialamt zeigte sich erstaunt
von einem Ort auf die dort befindlichen Menschen
Sprachwandelprozess entseht durch “Wenn-Dann-Beziehungen”
Wenn ein Laden dunkel ist, dann ist er geschlossen.
Wenn eine Frucht grün ist, dann ist sie noch nicht reif.
Der Laden ist dunkel : ,Der Laden ist geschlossen‘
Die Banane ist grün : ,Die Banane ist noch nicht reif‘.
überflüssig : (ursprgl.): reichlich (vgl. im Überfluss)
Wenn wir etwas reichlich haben, dann haben wir davon
mehr als nötig.
Wenn wir von etwas mehr als nötig haben, dann es ist
unnötig.
überflüssig: ,unnötig‘
Was ist ein Pejorativum?
Pejorativum (Plural: Pejorativa) oder Pejorativ (Plural: Pejorative) (zu lateinisch peior, Komparativ von malus „schlecht“) wird in der Sprachwissenschaft, namentlich in der Semantik, ein sprachlicher Ausdruck dann genannt, wenn er das mit ihm Bezeichnete „implizit abwertet“
Pejorisierung oder Pejoration ist die Bedeutungsverschlechterung eines positiven oder neutralen sprachlichen Ausdrucks im Zuge des Bedeutungswandels (im Gegensatz zur Bedeutungsverbesserung, der Meliorisierung oder Melioration)
Kritik an der Theorie Kellers
Keller erklärt nur lexikalischen Wandel, Bedeutungs- wandel
Zu wenig Beispiele, die zudem alle dem lexikalischen Bereich entstammen
Keller erklärt nur die Verbreitung, nicht aber die Entstehung von Sprachwandel
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