Suizid
-> Wortbedeutung
-> Herkunft
-> Geschichte
-> Suizid in der Religion
• Suizid (lat.) = sich töten (sui caedere) /Selbsttötung (sui cidium)
• Häufig wird der Suizid als Selbstmord oder Freitod bezeichnet
• Beide Bezeichnungen können jedoch eine moralische Beurteilung in den Begriff einbringen: Selbstmord eine tabuisierende, Freitod eine heroisierende
• Bibel und Antike: Suizid vertretbare oder sogar erwünschte Lösung bei einem unlösbaren Konflikt
• Konzil von Arles (452): Suizid ist ein Verbrechen
• Konzil von Nimes (1184): Verdammung des Suizids (kein Begräbnis für „Selbstmörder“)
• Verflechtung von Staat und Kirche im Mittelalter: gesetzliche Verankerung des Suizids als Straftat
• Französische Revolution (1790): Suizid keine Straftat mehr
• Beispiel Frankreichs folgen relativ rasch Preußen, Österreich; als letztes Land England (1961)
• Suizid im Islam
○ Suizid verboten, Aufnahme ins Paradies wird verweigert, es droht ein ewiges Höllenfeuer
○ Suizid, der die "Feinde des Glaubens" ins Verderben reißt, mithin eine erweiterte Selbsttötung, führt auf direktem Weg ins Paradies
• Suizid im Buddhismus
○ Suizid zwar nicht verboten oder geächtet, aber aus dem Verständnis des Reinkarnations-Glaubens heraus unsinnig
○ Beihilfe zum Suizid ist eindeutig verwerflich
• Suizid in der westlichen Gesellschaft
○ das Recht, einen unabwendbaren langen Leidensprozess abzukürzen, wird in verschiedenen Ländern durch die Gesetzgebung unterschiedlich unterstützt
Störungsbild & Klassifikation
• Suizididee
• Suizidalität
• Suizidversuch
• Suizid
• Erweiterter Suizid
• Gemeinsamer Suizid
• Parasuizidalität
• Suizididee: Nachdenken über Tod, Todeswünsche, suizidale Idee im engeren Sinne
• Suizidalität: Es besteht latente oder manifeste Absicht, aktiv das eigene Leben zu beenden
• Suizidversuch: selbstinitiiertes, gewolltes Verhalten, indem man sich verletzt oder eine Substanz in einer Menge nimmt, die die therapeutische Dosis oder ein gewöhnliches Konsumniveau übersteigt
• Suizid: Suizidversuch, der zum Tod geführt hat
• Erweiterter Suizid: Einbezug anderer Personen gegen ihren Willen (F32.3; F20)
• Gemeinsamer Suizid: Zwei oder mehr Personen begehen einvernehmlich Suizid
• Parasuizidalität: Übergangsbereich von Suizidalität zu Selbstverletzung (starke Selbstverletzung führt zum Tod, obwohl der tod nicht das Ziel war sondern die Selbstverletzung an sich -> Borderline)
Statistik
-> Häufigkeit
-> alle 40 Sekunden stirbt eine Person weltweit durch Suizid
-> am meisten in Russland, Grönland, …
-> am wenigsten in arabischen Ländern und in karibischen Ländern
-> schwierig, das zu glauben
-> in manchen Ländern gibt es keine konsequente Datenerfassung und in manchen arabischen Ländern könnten die Zahlen mit Absicht niedrig gehalten werden
-> Deutschland liegt in der Mitte
-> am höchsten im Osten (Litauen, Polen, …)
-> am niedrigsten im Westen (GB, Italien, …)
-> keine allzu starken Unterschiede
-> am meisten in Sachsen Anhalt und Sachsen
-> am wenigsten in NRW
-> Männer begehen mehr Suizid
-> mehr alte Menschen als junge Menschen
-> Suizidversuche werden häufiger durch Frauen und durch Jüngere durchgeführt
-> 75% der Suizide werden durch Männer durchgeführt
-> starker Abfall in den letzten Jahren
-> am meisten durch Erhängen
-> Männer nehmen eher harte Methoden (Erhängen, Sturz, Schusswaffe, …) und Frauen eher weiche Methoden (z.B. Tabletten)
-> deswegen bringen sich Männer auch häufiger um, da ihre Methoden effektiver sind
Ziel suizidaler Handlungen
Ansatzpunkt für Behandlung: Ambivalenz
Ziel suizidaler Handlungen:
• Häufig nicht der Tod
• Sondern Versuch, einer unerträglich, ausweglos und hoffnungslos erscheinenden Situation zu entfliehen -> Veränderung des aktuell erlebten Zustandes
• Wunsch zu sterben (Suizid als einzige Lösung) vs. Wunsch zu leben (Veränderung der krisenhaften Situation in der Art, dass Weiterleben möglich ist)
Diagnostik und Problematik dahinter
• Suizidalität an sich: Symptom, nicht psychische Störung
• ICD-10 bietet Möglichkeit der Spezifikation der Art (des Versuchs) der Selbsttötung als Zusatzsymptom (X60-X84 Vorsätzliche Selbstbeschädigung)
• Abklärung von Suizidalität: verbindlicher Bestandteil des diagnostischen Erstgesprächs
• Zudem: Abklärung von Suizidalität als Symptom im Rahmen der Diagnostik psychischer Störungen
• Wiederholte Abklärung im Falle von Krisen, Befindensverschlechterung usw.
Problematik:
• Fehlen eindeutiger Kriterien zur Risikoabschätzung
• Stattdessen eher Kontinuum, innerhalb dessen der Behandler das individuelle Risiko subjektiv (i.S. v. Kurzzeitprognose) bestimmen muss
• Möglichkeit der validen Risikoeinschätzung stark abhängig von Kooperationsbereitschaft und Offenheit des Patienten
-> sehr hohes Risiko
-> es ist ein Mann
-> mittleres / hohes Lebensalter
-> kein soziales Netz
-> Komorbide Suchterkrankung
-> kontinuierliche Suizidgedanken
-> konkrete Suizidideen
Risikomerkmale allgemein
1. Männlich und 35-54 Jahre (10 x höher als bei Frauen)
2. Ende einer Partnerschaft
3. Arbeitslosigkeit
4. Alleinlebend (einsam, isoliert, kontaktgehemmt)
5. Körperliche Krankheit
6. Psychische Krankheit (v.a. Depression, Sucht, Essstörung, Zwangsstörung, Psychosen, z.T. Ängste)
7. Persönlichkeitsfaktoren (leichte kränkbar, geringe Frustrationstoleranz)
8. Trauma mit dem Charakter des Ausgeliefertseins
9. Alte Menschen
10. Frühere Suizidversuche
11. Hoffnungslosigkeit, mangelnde Problemlösefähigkeit
Schutzfaktoren
• Zukunftsorientierung
• Faktoren, die im Leben halten
• Behandlungsmotivation
• Absprachefähigkeit („Anti-Suizid-Pakt“)
Einige Mythen über den Suizid
Fehler bei Suizidalität
Vorgehen: Bestimmung des individuellen Suizidrisikos
• Offenes, direktes und empathisches Erfragen des Vorhandenseins von Suizidalität
• Sammeln konkreter Informationen:
○ zur Art früherer u. aktueller Suizidgedanken u. –handlungen
○ zu Suizidalität im Familien- oder Freundeskreis (Modelllernen)
○ zu akuten Belastungsfaktoren, psychischen Erkrankungen, Zukunftsperspektiven
S3-Leitlinie: Fragen zur Abschätzung der Suizidalität
• Anhaltspunkte über aktuelle Suizidgefährdung und Absprachefähigkeit:
○ Differenzierung von Todessehnsüchten, ausgearbeiteten Suizidplänen auf Gedankenebene und von Suizidabsichten
• Klärung der Bereitschaft des Patienten, therapeutische Hilfe zu beanspruchen
Schweregrad und Indikatoren
Verlauf
• 40% der Betroffenen unternehmen mehr als einen Suizidversuch (WHO)
• Bei ca. 50% dieser Personen weniger als 1 Jahr zwischen aufeinanderfolgenden Versuchen (Schmidtke et al., 2002)
• Früheres suizidales Verhalten als starker Prädiktor für weiteres suizidales Verhalten -> Abklärung im Erstgespräch unbedingt notwendig
• Suizidversuche meist Kurzschlussreaktionen:
○ Ca. 80% der Überlebenden sind im Nachhinein froh über Rettung
• Ansteigende Suizidgefährdung mit zunehmendem Lebensalter (gilt für Männer und Frauen)
Ätiologie & Störungsmodell
• Psychische Erkrankungen: hoher Risikofaktor für Suizidalität
○ Deutlich erhöhte Raten bei diversen Störungen (z.B. 15% bei schwerer Depression)
○ Komorbidität mehrerer psychischer Erkrankungen als weiterer Risikofaktor (höchstes Suizidrisiko bei Menschen mit Komorbidität von Depression und substanzbezogenen Störungen)
• Chronische körperliche Erkrankungen
• Schwierige soziale Bedingungen (z.B. soziale Isolation, Arbeitslosigkeit)
• Negative Lebensereignisse (z.B. Verlust von Bezugsperson, traumatische Erlebnisse)
• Suizidalität als mangelhafte Problemlösestrategie: Suizid als Lösungsmöglichkeit für Problem, das starkes Leid verursacht (Shneidman, 1987) -> Eingeengte Wahrnehmung von Handlungsalternativen bedingt Einschätzung von Suizid als einzige Möglichkeit
-> interpersonale Theorue suizidalen Verhaltens
-> wichtig ist hier die Furchtlosigkeit (Menschen, die im Krieg waren, schon einmal einen Suizidversuch probiert haben, schon einmal in der Psychiatrie waren, ,… haben eine gesenkte Furchtlosigkeit vor Schmerzen und dem Tod und sind deswegen anfälliger)
-> Einfluss Medien/Bücher/Filme auf Suizidversuche
-> Sendung vom "Tod eines Schülers"
-> Schüler stürzt sich vor den Zug
-> nach der Ausstrahlung warfen sich mehr junge Männer vor Züge
-> Modelllernen
-> 13 reasons why
-> auch nach dieser Ausstrahlung kam es zu erhöhten Suizidraten in der Altersgruppe der Protagonistin
-> auch hier wieder Modelllernen
-> regeln Berichterstattung in den Medien
In der Berichterstattung sollte alles vermieden werden, was zur Identifikation mit den Suizidenten führen kann, z.B.:
• Suizid auf der Titelseite oder „TOP-News“
• Foto/ Abschiedsbriefe veröffentlichen
• Suizid als nachvollziehbare Reaktion darstellen („Für ihn gab es keinen Ausweg“)
• Suizid romantisierend oder idealisierend darstellen (”Im Tod mit seiner Liebsten vereint“)
• Suizidmethode/ Ort detailliert beschreiben
• Hinweise auf „Suizidforen“ im Internet
-> Verfügbarkeit von Mitteln
-> Suizide häufig durch Schusswaffen
-> v.a. in Alaska und den USA
-> sehr starke Korrelation von "Gibt es eine Waffe im Haushalt" und Suizid
Einflüsse auf die Häufigkeit von Suiziden
Behandlung
-> Suizidprävention
-> Stabilisierung
-> Wichtig dabei
-> Phasen der Krisenintervention
Suizidprävention:
• Ziel: Verhinderung der Umsetzung von Suizidgedanken in – handlungen -> Zeitgewinn für Durchführung therapeutischer Interventionen
• Maßnahmen z.B. struktureller Art (Beeinflussung ungünstiger gesellschaftlicher Bedingungen, Aufklärungskampagnen)
Stabilisierung:
• Schaffung von sicherer Umgebung und Beziehungsaufbau
• Exploration und Diagnosestellung
• offene Ansprache von Suizidplänen
• Maßnahmen:
○ Einleitung von Entscheidungsprozess bzgl. Problematik und Suizidalität
○ Perspektivenaufbau
○ Erarbeitung und Umsetzung von Lösungsmöglichkeiten
Wichtig dabei:
• Kritisches Abwägen und Diskutieren der Vor- und Nachteile von Suizid
• Validierung des emotionalen Erlebens des Patienten
• Wenn Distanzierung nicht eintritt: gesetzliche Verpflichtung des Behandlers , Patienten (auch gegen dessen Willen) in psychiatrischer Klinik unterzubringen
• Behandlung zugrundeliegender psychischer Störungen
Phasen der Krisenintervention:
1. Beziehung herstellen
2. Risikoabschätzung
3. Zeit gewinnen – Reflexion anregen
4. Selbstkontrolle fördern
5. Entscheidung über das Behandlungssetting treffen
Ethische und rechtliche Aspekte
„Ich halte es für evident, dass eine wohlerwogene Entscheidung zum Selbstmord im allgemeinen respektiert werden muss. Wir haben nicht das Recht, einem Selbstmörder in den Weg zu treten, der seine Entscheidung nach reiflicher Überlegung und sorgfältiger Abwägung aller Alternativen getroffen hat.“ (Birnbacher, 1990)
• Freitod als Bilanzselbstmord: Ausdruck freier Willensentscheidung
• Professionelle Suizidverhütung:
○ Personen mit Suizidgedanken suchen Hilfe
○ 80% sind im Nachhinein mit Rettung einverstanden
○ die meisten Suizidversuche sind Kurzschlussreaktionen
○ Ambivalenz suizidaler Personen
§212/ §13 StGB: Totschlag durch Unterlassen
• Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter 5 Jahren bestraft.
• Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht.
323c StGB: Unterlassene Hilfeleistung
• Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu 1 Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
Die AWMF erachtet eine Orientierung an den Regelung in den Niederlanden in Bezug auf ein legislatives Schutzkonzept für die Suizidassistenz für sinnvoll….. (Wunsch der Patient*innen freiwillig und nach reiflicher Überlegung geäußert; Zustand der Patient*innen aussichtslos und ihr Leiden unerträglich; Patient*innen über Situation und Aussichten aufgeklärt; gibt für die Situation keine andere annehmbare Lösung). Zusätzlich ist die Entscheidungsfähigkeit des Betroffenen zu prüfen, insbesondere hinsichtlich einer möglichen Einschränkung durch eine psychische/psychiatrische oder neurologische Erkrankung.
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