Aufbau eines Strafverfahrens
Ermittlungsverfahren
Können Anschuldigungen erwiesen werden?
Sammlung von Beweisen durch Polizei
genug Beweise --> Anklage wird erhoben
keine Beweise --> Ermittlung wird eingestellt
Hier i.d.R. Auftrag an SV
Zwischenverfahren
Entscheidung des Gerichts, ob Anklageerhebung auf Basis der Beweise stattgegeben wird
Hauptverfahren
Gerichtsprozess --> auf Basis der Beweise wird über das Urteil entschieden
Vollstreckungsverfahren --> Strafe wird vollstreckt
1. Aussagepsychologische Fragestellung und 2. wie wird die Fragestellung geprüft?
1.
Typische Fallkonstellation (Glaubwürdigkeitsbegutachtung)
Aussage gegen Aussage, keine weiteren Beweismittel
Ist die Aussage des Opferzeugens erlebnisbasiert oder nicht
i.d.R. wird Opferzeuge begutachtet, weil Angeklagte nicht dazu verpflichtet sich auszusagen & sich selbst zu belasten --> Unschuldsvermutung
Aussagenpsychologische Begutachtung ist freiwillig, Zeugenaussage vor Gericht jedoch nicht --> SV kann hier beiwohnen und auf Basis dieser Aussage das Gutachten verfassen (wenn Gericht dies beauftragt)
nur im Fall von Verwandtschaft hat ein Zeuge ein Zeugnisverweigerungsrecht
2.
Aussagenpsychologische Begutachtung per inhaltanalytischer Glaubhaftigkeitsbeurteilung (Statement Validitiy Assessment)
Annahme: Inhaltliche Qualität einer Aussage als Indikator für deren Erlebnisbezug
Jedoch nicht per se, sondern nur wenn im Rahmen eines bestimmten diagnostischen Vorgehens geprüft.
Historische Entwicklung der Aussagenpsychologischen Begutachtung
Von Glaubhaftigkeit einer Person zur Glaubhaftigkeit einer Aussage nach Wiederaufkommen der Gerichtspsychologie nach dem II. Weltkrieg
1954 Urteil des Bundesgerichtshof --> Aussagepsychologische Gutachten sind einzuholen, wenn Anklage & Verurteilung einer Person von Zeugenaussage abhängt --> mehr Gutachten entstanden --> Analyse durch Arbeitsgruppen
Arbeitsgruppe stellten fest, dass die erlebnisbasierten Aussagen höhere Qualität aufwiesen --> Udo Undeutsch "Arbeitshypothese" --> Steller = "Undeutsch-Hypothese"
Zur Quantifizierung dieser Beurteilung von Kriterienlisten erstellt, diese wurden dann von Steller und Köhnke systematisiert (CBCA Qualitätskriterien)
1. CBCA-Kriterien & 2. Theorie (Köhnken)
1. Criteria-Based Content Analysis
1. Allgemeine Merkmale
Logische Konsistenz
Sprunghafte, nicht chronologische Darstellung
Quantitativer Detailreichtum
2. Spezielle Inhalte
Raum-zeitliche Verknüpfung = Handlungen fügen sich ein in Routine des Aussagenden
Interaktionen
Wiedergabe von Gesprächen
Schilderung von Komplikationen im Handlungsverlauf --> denn nicht schemakonform
3. Individuelle Besonderheiten
Ausgefallene Einzelheiten
Nebensächliche Einzelheiten
Phänomengemäße Schilderung unverstandener Handlungselemente
z.B. Kinder beschreiben Samenerguss "weißes Pipi"
Indirekt handlungsbezogene Schilderungen
Details, die nichts mit Ereignis zu tun haben, aber mit dem Inhalt um den es geht (z.B. der Austausch über sexuelle Erfahrungen mit anderen Personen)
Schilderung psychischer Vorgänge
Psychische Vorgänge der TäterInnen
4. Motivationsbezogene Inhalte
Spontane Verbesserung der eigenen Aussage
Eingeständnis von Erinnerungslücken
Einwände gegen die Richtigkeit der eigenen Aussage
Selbstbelastungen
Entlastung des Angeschuldigten
5. Deliktspezifische Inhalte = deliktspezifische Aussageelemente (Inhalte, die typisch vor die Straftat sind)
- Induktive Entwicklung (aus Fallmaterial entwickelt und nicht aus empirischer Theorie) --> Theorie wurde nachher erst abgeleitet
- Kein Anspruch auf Vollständigkeit
- Vorliegen der Kriterien nicht aufsummieren & kein Cut-Off, sondern immer einzelfallspezifisch zu beurteilen
2. Theorie (Köhnke)
Kognitive Leistung (primäre Täuschung)
Falschaussagen erfordern hohe kognitive Leistung (Ausdenken auf Basis von Wissensstrukturen und kognitiven Schemata; gespeichert und wieder konstruiert werden; evtl. auch Erweiterung oder Veränderung auf Nachfrage nötig)
--> daher fehlen kognitive Ressourcen für Kriterien 1-3
Strategische Selbstpräsentation (sekundäre Täuschung)
Falschaussagende Person will glaubhaft wirken
Daher fehlen Kriterien der 4ten Kategorie
Beide Aufgaben treffen nicht immer zu: Sehr leichte Falschaussagen, auch Wahrheitssagenden ist es wichtig geglaubt zu werden
1. Was ist Aussagetüchtigkeit 4 punkte
2. Beurteilung der Aussagetüchtigkeit
3. Einschränkung der Aussagetüchtigkeit
1. Was ist Aussagetüchtigkeit
Adäquate Situationswahrnehmung
Speicherung über längeren Zeitraum
Verbales Ausdrucksvermögen
Unterscheidungsfähigkeit zwischen tatsächlich stattgefundenen und anders generierten Vorstellungen
2. Beurteilung Aussagetüchtigkeit
Vor Hypothesentestung: Aussagetüchtigkeit als Voraussetzung --> ist bei Besonderheiten der aussagenden Person zu prüfen (nicht routinemäßig, da unökonomisch)
Entscheidend: Zeitpunkt
Tatzeitpunkt
Befragungszeitpunkt
Je nach Zeitpunkt, hat das Auswirkungen auf die Beurteilung
Erhaltene Aussagetüchtigkeit
Vorübergehend aufgehobene Aussagetüchtigkeit
Während Befragungszeitpunkt
Dauerhaft aufgehobene Aussagetüchtigkeit
Während Zeitpunkt der Strafe z.B. in intoxikierten oder psychotischen Zustand
3. Einschränkung Aussagetüchtigkeit
Neben Fähigkeiten müssen auch Aufgabenanforderungen berücksichtigt werden (Interaktion von Fähigkeiten, Aufgabe und Erhebungssituation)
Aussagetüchtigkeit kein Zeit überdauerndes konstantes Konstrukt, sondern immer nur bezogen auf einen Sachverhalt
Eingeschränkt bei entwicklungsbedingten oder psychopathologische Einschränkungen:
- Kinder unter 4 Jahren sind im Allgemeinen nicht aussagetüchtig. Sie brauchen oft Hinweisreize zum Erinnern, die man ja aufgrund von Suggestion nicht geben darf.
- 4-6 Jahre: Kurze Narrationen möglich, Fähigkeit, ohne Hilfestellung Dritter über Erlebnisse zu berichten, nimmt zu (aber: Beachtung der Aufgabenanforderungen); Unterscheidung zwischen Fantasie und Wirklichkeit (dennoch: „Als-ob“ Szenarien in der Befragung vermeiden)
- Ab 6-7 Jahren: Berichte von Kindern nähern sich in ihrer Organisation und Logik denen von Erwachsenen, d.h. ohne Vorliegen von Entwicklungsverzögerungen ist in diesem Alter i.d.R. von einer vorhandenen Aussagetüchtigkeit auszugehen.
Psychopathologische Einschränkungen:
- Beeinflussung durch psychotrope Substanten/Substanzabhängigkeit -> nicht per se, es kann immer sein, dass das Erleben trotzdem so „normal“ ist, dass von Aussagetüchtigkeit ausgegangen werden kann
- Schizophrenien
- Persönlichkeitsstörungen (v.a. Borderline), nur bei akuten psychotischen Symptomen.
Hypothesentesten bei aussagepsychologischer Begutachtung
Nullhypothese: Aussage ist nicht erlebnisbasiert
Alternativhypothesen:
Suggestionshypothese (nicht intentional)
Falschbezichtigungshypothese (intentional)
Erlebnisbezug muss nachgewiesen werden (entspricht der Unschuldsvermutung)
Erlebnisbezug vs. Suggestion
1. Was sind Aussagen, die auf suggestiven Prozessen beruhen?
2. Wie entstehen suggestive Aussagen
- Bei Kindern
- Bei Jugendlichen/ Erwachsenen
3. Prüfung der Suggestionshypothese
Aussagen ohne Erlebnisbezug, Personen gehen aber davon aus die Wahrheit zu sagen (nicht-intentional)
Kontamination (Erlebnisbezug mit Falschinformationen) bis Pseudoerinnerung (Kein Erlebnisbezug)
Spezifische Mangelsituation (Mangel an Erinnerung, Mangel an Klarheit) --> Mangel soll durch Inhalt der suggestiven Aussage behoben werden (z.B. für psychisches Leid wird Erklärung gesucht)
Plausibilität für zwischenzeitliches vermeintliches Nichterinnern (z.B. ich habe Kindheitstraume verdrängt)
Generierung mentaler Vorstellungen
Quellenverwechslungsfehler --> durch intensive mentales Auseinandersetzen und vorstellen, kann es zu Ausbildung falscher Erinnerungen kommen
Fremdsuggestive Prozesse bei Kindern
Verdachtsbildung aufgrund einseitiger Interpretation unspezifischer Verhaltensweisen (Bettnässen, Schlafprobleme)
Suggestive Befragung
Konfirmatorischer Beurteilungsprozess -> Info die eigener Annahme entspricht wird bestärkt u. andere Info wird ignoriert oder umbewertet (z.B. “Kind spricht nicht von Missbrauch, weil es sich nicht traut”)
Fremdsuggestion & Autosuggestion bei Jugendlichen/ Erwachsenen
Psychisches Leiden als Ausgangspunkt der Verdachtsbildung, werden als Folge eines Traumas interpretiert
häufig Induktion von Pseudoerinnerungen im Rahmen von Therapie und Beratung
Auch Autosuggestion möglich (durch intensives Beschäftigen ohne Einfluss von Außen)
Kein Qualitätsunterschied zwischen erlebnisbasierten & suggestiven Aussagen
keine primäre Täuschungsaufgabe, weil Personen wirklich mentale Repräsentationen als vermeintliche Erinnerung schildern
Keine sekundäre Täuschung, da keine Täuschungsabsicht besteht
Zur Prüfung der Suggestion muss daher genaue Rekonstruktion der Aussageenstehung, - und Entwicklung gemacht werden
Hinweise:
Bei Person selbst oder relevantem Umfeld lag die Annahme vor der Aussage vor, dass nicht bewusste Erfahrungen vorliegen müssen
(Therapeutische) Unterstützung sich an nicht Zugängliches zu erinnern
Erinnerungen werden im Laufe der Zeit immer mehr
Erinnerungen der ersten beiden Lebensjahre
Mögliche Ergebnisse:
Keine suggestiven Einflüsse --> Zurückweisung der Suggestionshypothese
Gravierende suggestive Einflüsse --> Keine Zurückweisung möglich (bedeutet nicht, dass Suggestion zutrifft)
Erlebnisbezug vs. erfunden
1. Aussagequalitäten
2. Qualitäts-Kompetenz-Vergleich
3. Motiv für Falschaussage
4. Beurteilung des Erlebnisbezugs
Aussageimmanente Qualität (Anwendung CBCA-Kriterien)
Aussagenübergreifende Qualität (Konstanz der Aussage)
Konstanz bzgl. versch. Aussagezeitpunkte
Konstanz als Mindestanforderung
denn auch erfundene (v.a. leichte) Aussagen können übereinstimmend berichtet werden
Nur dann relevant, wenn besonders hoch (sowohl erwartet konstante als auch erwartet inkonstante Inhalte werden erinnert) oder niedrig
Erwartete Konstanzen Beispiel: Örtlichkeit des Geschehen, handlungsrelevante Gegenstände, Beteiligte Handlungspartner
Erwartete Inkonstanzen: Chronologische Reihenfolge, Häufigkeitsangaben, Kleidung, eigene frühere Aussagen, Wetterverhältnisse, Wortlaut von Gesprächen
Aussagenimmanente und aussagenübergreifende Qualität wird auf Basis personeller und situativer Aspekte bewertet
Personell:
Autobiografische Gedächtnisleistung
Intellektuelle & verbale Fähigkeiten
Täuschungsfähigkeiten
Wissen & Vorerfahrung
Aussagebereitschaft
Situativ
Komplexität der Situation
Art der Befragung
Intervall zwischen Ereignis & Befragung & zwischen 2 Befragungen
Anforderung an Qualität steigt mit personalen und situativen Voraussetzungen
Motiv kann eigene (von sich ablenken, Aufmerksamkeit) oder beschuldigte Person betreffen
Interindividuelle Unterschied zur Durchsetzung der eigenen Interessen (Schädigung Dritter in Kauf nehmen)
Analyse der Beziehung & Konsequenzen für aussagende und beschuldigte Person (Rachemotiv)
Motiv kann auch bei erlebnisbasierten Aussagen vorliegen --> Motiv allein kein Indikator für Falschaussage
1. Aussagetüchtigkeit (bei Zweifel) prüfen
2. Prüfung Suggestionshypothese
3. Erlebnisbasiert o. erfunden anhand der Aussagequalitäten
Mögliche Fallkonstellationen
Kein Täuschungswissen oder Fähigkeit vorhanden (z.B. Kinder) --> Erlebnisbezug
Alle Voraussetzungen sind erfüllt (Täuschungswissen, Täuschungsfähigkeit, Motiv) --> Falschbezichtigungshypothese nur bei hoher Qualität und Konstanz zurückzuweisen
Täuschungswissen + Fähigkeit vorhanden, aber kein Motiv
Hohe Qualität & Konstanz --> Zurückweisung
gravierende Konstanzmängel --> keine Zurückweisung
niedrige Qualität, keine Konstanzmängel --> Darlegung: Qualität nicht ausreichend, daher keine Zurückweisung möglich, aber auch kein Hinweis auf Motiv & keine Konstanzmängel
Ablauf aussagepsychologischer Begutachtung
Aktenanalyse
Auswertung der Anknüpfungstatsachen --> Wichtig: Chronologische Reihenfolge!
Tatvorwurf
Aussageentstehung und Entwicklung
Anhaltspunkte für Motiv
Persönlichkeitsspezifische Besonderheiten
Generieren von fallspezifischen Hypothesen zur Prüfung der Suggestion o. Falschbezichtigung
Untersuchung
Untersuchungsplanung auf Basis der Hypothesen: Erstellung Explorationsleitfaden, ggf. weitere diagnostische Methoden
Durchführung der Exploration (Wird aufgenommen und wörtlich transkribiert)
Tatvorwürfe
Information zur Aussageentstehung und Entwicklung
Anhaltpunkte für Motiv
Information für Qualitäts-Kompetenz-Vergleich (z.B. Kognitive Leistungsfähigkeit, Berichtverhalten, bereichsspezifische Kenntnisse)
ggf. Information für Beurteilung der Aussagetüchtigkeit (bei Zweifel)
Wie ist Exploration gestaltet?
Versuch einen zusammenhängenden Bericht zu erhalten
Offene Fragen stellen
Erst allgemein, dann spezifisch (Trichtertechnik)
Auswertung & Erstattung (Transparent, differenziert, nachvollziehbar & vollständig)
Deskriptive Darstellung der Ergebnisse mit Bezug zur Quelle (wie sind Ergebnisse entstanden)
Integration der Ergebnisse zur Beantwortung der Hypothesen
Rückübersetzung in gerichtlichen Auftrag
vorläufiges schriftliches Gutachten erstellen
Mündliche Erstattung im Hauptverfahren
Qualitätsanforderung an die Glaubhaftigkeitsbegutachtung 4 Punkte
Grundsatzurteil des 1. Strafsenats des BGH formuliert Mindestanforderungen an Glaubhaftigkeitsbegutachtung
Müssen sich auf Glaubhaftigkeit der Aussage beziehen (nicht der Person)
Glaubhaftigkeit solange zu negieren, bis Negation mit den gesammelten Fakten der SV nicht mehr vereinbar ist --> Entspricht dem Prinzip der Hypothesentestung
Alle begründbaren Alternativhypothese müssen diskutiert werden
Transparenz & Nachvollziehbarkeit
Empirische Evidenz
Effektstärken schwanken über die Studien hinweg gigantisch, Gesamtscore d = .86 (Oberlader)
Eingeschränkte ökologische Validität der Studien
Es wurden die CBCA Kriterien benutzt und Summenscores gebildet, wobei es ja eigentlich kein Codierungssystem und keine Gewichtungsregeln gibt!
Untersuchungen beschränken sich auf CBCA (Kein Qualiatäts-Kompetenzvergelich, keine Suggestionshypothese etc.)
Studienlage zeigt: Methode der Summenscores ist erfolgreich ABER so wird das in der Praxis ja gar nicht gemacht -> Es wäre gut, das in der Praxis so zu machen.
Große Range der Kriterien: Einige hohe positive Effektstärken, andere gehen gegen Null.
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