Warum ist das Forschungsfeld der Sprachevolution voller Kontroversen?
Hier treffen Theorien und neue Forschungsergebnisse aus unterschiedlichsten Fachgebieten aufeinander und immer neue Methoden und Kenntnisse aus verschiedenen Disziplinen müssen integriert und bestehendes Wissen muss aktualisiert oder auch teilweise korrigiert werden
Was sind Besonderheiten der Sprachfähigkeit des modernen Menschen?
Besonderheiten der Sprachfähigkeit des modernen Menschen (neben der hochentwickelten hierarchischen Syntax und Semantik) sind u. a.:
der Austausch über Gedanken und Ideen
die Erfindung und Kommunikation von Geschichten und Mythen
die Aufrechterhaltung von sozialer Stabilität unter den Mitgliedern einer Gruppe/größeren Gemeinschaften durch die Fähigkeit zur komplexen Kommunikation
die Absprache gemeinsamer Ziele und Absichten
Eine der einflussreichsten Hypothesen zur Sprachevolution geht auf Noam Chomsky zurück
Wie lautet diese?
Chomsky geht davon aus, dass Homo sapiens als einziges Lebewesen mit einer angeborenen linguistischen Universalgrammatik ausgestattet ist
Diese Hypothese steht damit im kompletten Gegensatz zur Annahme einer schrittweisen Evolution der Sprachfähigkeit
Die Hypothese unterscheidet streng zwischen den Begriffen Sprache und Kommunikation
Zudem wird angezweifelt, dass vergleichende Forschung zur Evolution von Kommunikation oder Vokalisationslernen im Tierreich und bei unseren nächsten Verwandten einen sinnvollen Beitrag zum Verständnis der menschlichen Sprachentwicklung liefern kann
Als Ursprung der Sprache wird hier von den Autoren eine sprunghafte, plötzliche Veränderung der Denkfähigkeit betrachtet, die in den vergangenen 100.000 Jahren plötzlich und ohne Selektionsdruck aufgetreten sein soll
Demnach also noch im Zeitraum nach der Evolution des Homo sapiens
Dieser doch teilweise kreationistische Ansatz weist eine deutliche Diskrepanz zum Evolutionsverständnis auf und erfährt daher auch in der aktuellen Forschung viel Widerspruch
Warum erhält Chomskys Hypothese viel Widerspruch?
Was besagen moderne Hypothesen zum Spracherwerb?
Moderne Hypothesen nehmen dagegen an, dass viele Faktoren über einen langen Zeitraum hinweg die neurobiologischen und kognitiven Prozesse formten, die unser heutiges Sprachvermögen ausmachen
Das bezeichnet man auch als „biologische Disposition der Sprache“
Diese Hypothesen besagen, dass die kognitiven Fähigkeiten des Menschen, die die Sprache ermöglichen, nicht einzigartig sind, sondern sich während der Evolution nach und nach durch natürliche Auslese entwickelt haben
Bei diesen Erklärungsansätzen steht die Kommunikationsentwicklung als wichtiges Mittel zum Mitteilen von Gedanken und Erfahrungen im Vordergrund, und eben nicht wie bei Chomsky das urplötzliche Auftreten höherer Denkfähigkeit
Das Verständnis unseres Sprachvermögens profitiert daher durchaus von dem Vergleich mit anderen, nicht menschlichen Kommunikationsformen und der Evolution kognitiver Prozesse, insbesondere durch Studien an Menschenaffen
Warum führt man Studien mit Primaten durch?
Von Studien an Primaten ist weitreichend bekannt, dass Schimpansen und andere Menschenaffen Vokalisation, aber eben auch Gestik und Mimik zur Kommunikation mit Artgenossen nutzen
Es ist natürlich naheliegend, zunächst nach Erklärungen für die Evolution der menschlichen Sprache in einer Weiterentwicklung der Primaten-Vokalisation zu suchen, auch wenn sich der Sprechapparat des Menschen deutlich von dem seines nächsten Verwandten unterscheidet
Was zeigen Studien von Primaten zum Vocal Production Learning, Auditory Learning oder Vocal usage Learning?
Welche Arten von Vokalisierungslernen werden unterschieden?
Ein Thema, das dazu aktuell sehr heiß in der Forschung diskutiert wird, ist das sogenannte Vokalisierungslernen oder „Vocal Production Learning“
Ein wichtiger Bestandteil der gesprochenen Sprache ist die Imitation von neuen Lauten, und lange ging man davon aus, dass unter den Primaten nur der Mensch dazu in der Lage ist
Diese Annahme ist allerdings umstritten
Ein möglicher Kompromiss in dieser Debatte ergibt sich durch die Anpassung der Definition von Vokalisierungslernen
In einigen Studien wird daher zwischen komplexem und limitiertem Vokalisierungslernen unterschieden, wobei lediglich in der komplexen Form die Imitation von Lauten gefordert wird, während sich die limitierte Form, die auch bei verschiedenen nicht menschlichen Primaten berichtet wird, auf Feinabstimmungen und Modulationen der spezieseigenen Vokalisation bezieht
Auditorisches Lernen („Auditory Learning“) und die gezielte Anwendung gelernter Vokalisationen in neuem Kontext („Vocal Usage Learning“) findet sich dagegen auch bei anderen Primaten
Vorkommen von Bestandteilen gesprochener Sprache…
Vocal Production Learning
Auditory Learning
Vocal Usage Learning
Vorkommen von Bestandteilen gesprochener Sprache
Lernkomponente
Definition
Vorkommen
komplex: die Fähigkeit, neue Laute nachzuahmen
Mensch, Wale, Robben, Fledermäuse, Elefanten, Singvögel, Papageien und Kolibris
limitiert: die Fähigkeit der Feinabstimmung und Modulation speziesspezifischer Vokalisation
weiter verbreitet im Tierreich als die komplexe Form, findet sich auch bei nicht menschlichen Primaten
die Fähigkeit, neue Lautassoziationen zu lernen und zu erinnern
weit verbreitet im Tierreich (auch bei nicht menschlichen Primaten)
die Fähigkeit, zu lernen, angeborene oder erworbene Laute in einem neuen Kontext zu produzieren
In der aktuellen Forschung zur Sprachproduktion zeigen sich aber vor allem welche zwei Hauptforschungszweige, die neue Erklärungsansätze abseits der Vokalisationstheorie zur Evolution von Sprache beim Menschen liefern?
Es handelt sich dabei um die folgenden Hypothesen:
Die erste These geht davon aus, dass möglicherweise Gesten bei Primaten eine wichtige Rolle in der Sprachentwicklung spielten
Weitere Thesen sehen hingegen eher Lippenbewegungen und Mimik bei Primaten als Grundlage der Sprachentwicklung
Inwiefern wurden Gesten und Zeichensprache bezüglich der Sprachfähigkeit erforscht?
(1. Hypothese)
Die mögliche Bedeutung manueller Gesten für die Entwicklung von Sprache wird schon lange erforscht
Die Sprachfähigkeit ist nie alleine auf die gesprochene Sprache beschränkt
Zeichensprache erfüllt ebenfalls alle Kriterien einer echten Sprache
Hinweise auf die Bedeutung von Gesten kommen auch aus der Betrachtung der Primatenvokalisation
Bei (nicht menschlichen) Menschenaffen sind Vokalisierungen genetisch vorgegeben, unflexibel und stark mit dem emotionalen Befinden verbunden
Das alles trifft allerdings nicht auf die Gestik zu
Gesten bei Menschenaffen sind gelernt, können für unterschiedlichste Zwecke eingesetzt werden, lassen sich bewusst kontrollieren und besitzen damit wichtige Charakteristika der menschlichen Sprache
Zudem zeigte sich, dass sowohl der Sprache als auch der Gestik ähnliche neurobiologische Mechanismen zugrunde liegen
Sowohl Gestik als auch Sprachlaute werden bevorzugt in der linken Gehirnhemisphäre produziert und sind mit dem Parietalkortex verbunden
Studien konnten außerdem zeigen, dass gestische Kommunikation sich bei Kindern vor dem Erwerb von Sprachlauten entwickelt und auch taubstumme Kinder in der Lage sind, eine eigene Zeichensprache zu generieren
Aus diesen Gründen gehen einige Forscher davon aus, dass sich Sprache nicht aus der Vokalisation, sondern zunächst aus Gesten heraus entwickelte
Im Laufe der menschlichen Evolution wurde diese grundlegende Prädisposition zur Kommunikation dann durch den natürlichen Selektionsdruck unter Integration von Vokalisierung zur gesprochenen Sprache weiterentwickelt
Hypothese, die die Ursprünge von Sprachen in der Evolution des Sprechrhythmus und der Mimik sieht?
(2. Hypothese)
Eine zweite Hypothese sieht dagegen die Ursprünge von Sprache eher in der Evolution des Sprechrhythmus und der Mimik
Der normale menschliche Sprechrhythmus ergibt sich aus der regelmäßigen Produktion von Wortsilben
Der Sprechrhythmus findet sich bei allen gesprochenen Sprachen und ist daher universell
Er liegt zwischen 2 und 7 Hz, d. h., dass zwei bis sieben rhythmische Zyklen des Öffnens und Schließens des Mundes beim Sprechen innerhalb einer Sekunde stattfinden
Viele Primaten, einschließlich nicht menschlicher Menschenaffen, produzieren das sogenannte Lippenschmatzen („Lip Smacking“) aber auch andere Vokalisierungen in einem ähnlichen Rhythmus (4–5 Hz) wie der menschliche Sprechrhythmus
Das Lippenschmatzen zeigt sich vor allem in sozialen Situationen. Dem Schmatzen liegen dabei schnelle und koordinierte Bewegungen der Lippen, des Kiefers, der Zunge und des Zungenbeins zugrunde
Ähnlich wie die Gestik, kann auch die Bewegung des Gesichts und der Lippen bei Primaten bewusst gesteuert und aktiv zur Kommunikation eingesetzt werden, im Gegensatz zur nicht bewusst gesteuerten Vokalisation
Auch das Lippenschmatzen erfüllt damit eine wichtige Voraussetzung für Sprache und stützt die Annahme, dass möglicherweise auch der Mimik eine wichtige Rolle in der Sprachentwicklung zukam
Inwiefern könnte man beide Hypothesen (Hauptforschungszweige) kombinieren?
Beide Hypothesen liefern wichtige Erklärungsansätze und denkbar wäre daher auch, eine Kombination beider Theorien als Ursprung der Sprachevolution zu betrachten
Demnach könnte die Sprachentwicklung aus der Gestik heraus auch über die zunehmend perfekte Kontrolle der Gesichtsmuskulatur erfolgt sein
Grobe Körper- und Handbewegungen könnten im Laufe der Evolution durch feinere Lippen- und Zungenbewegungen ersetzt worden sein
Aktuelle Modelle zur Sprachevolution gehen von einer multimodalen Entwicklung der Sprachevolution aus, wobei hier allerdings vor allem die Kombination von Gesten mit gleichzeitiger Vokalisation in Verbindung gebracht wird
Welche Hinweise ergeben sich aus der Genetik bzgl der Sprachfähigkeit?
Auch aus der Genetik kommen deutliche Hinweise auf eine lang andauernde und langsame Sprachevolution des Menschen, was gegen eine kurzfristige und plötzliche Evolution der Sprache beim Homo sapiens spricht
Insbesondere das FOXP2-Gen („forkhead box protein2“), ein Transkriptionsfaktor, spielt eine bedeutende Rolle für das Sprachvermögen
Menschen mit einem Defekt in diesem FOXP2-Gen zeigen Schwierigkeiten beim Erlernen von Grammatik, bei der Sprachproduktion und beim Sprachverständnis
Auch finden sich Defizite in der Koordination der Gesichtsmuskulatur. Das menschliche FOXP2-Gen zeigt spezifische Veränderungen im Vergleich zu anderen Primaten und auch anderen Säugern (z. B. der Maus)
Die Unterschiede gegenüber unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, sind durch Mutationen wahrscheinlich in den vergangenen 200.000 Jahren entstanden und stellten vermutlich einen Selektionsvorteil für den Menschen dar
Erste Genmutationen traten dagegen bereits in den 130 Millionen Jahren, die den gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Schimpanse von der Maus trennen, auf
Möglicherweise befähigte die Mutation unsere Vorfahren zu einer verbesserten Kontrolle von Bewegungen der Gesichtsmuskulatur und begünstigte damit die Sprachentwicklung
Ein weiteres Gen, das mit Sprache in Verbindung gebracht wird, ist GLUD2 (codiert das Enzym Glutamatdehydrogenase 2)
Man geht davon aus, dass GLUD2 vor etwa 23 Millionen Jahren auftrat, bei der Trennung der Hominoiden von den Altweltaffen
GLUD2 scheint an der Entwicklung kognitiver und sprachlicher Fähigkeiten beteiligt zu sein und findet sich nur beim Menschen und weiteren Menschenaffen (Überfamilie der Hominoiden)
Was sind Transkriptionsfaktoren?
Als Transkriptionsfaktor wird in der Molekularbiologie ein regulatorisches Protein bezeichnet, das die Initiation der RNA-Polymerase und damit den Start der Transkription (der Synthese von RNA anhand einer DNA Vorlage) modulieren kann.
Welche Hypothesen sehen einen Zusammenhang zwischen Spraxhentwicklung und Werkzeugherstellung?
Hierbei handelt es sich nur um Spekulationen, da Fossilfunde über diese Prozesse nur wenig Auskunft geben können
Die Theorien zur Sprachentwicklung überschneiden sich teilweise mit den Theorien zu den Ursachen der Gehirnevolution beim Homo sapiens
Gängige Hypothesen basieren hier vor allem auf dem möglichen Nutzen von Sprache für den gegenseitigen Austausch über die Umwelt, wie z. B. Jagdabsprachen, das Kommunizieren von Zukunftsplänen oder von Anleitungen für den Werkzeugbau
Auch die Werkzeugherstellung und der Werkzeuggebrauch werden oftmals mit der Evolution von Sprache in Verbindung gebracht, da hier ähnliche Gehirnregionen benutzt werden und man zudem eine enge zeitliche Koppelung von Sprachentwicklung und Werkzeuggebrauch in der Entwicklung von Kindern beobachten kann
Allerdings häuft sich zunehmend Kritik an diesen Thesen, da ähnliche Umweltprobleme auch bei anderen Tierarten bestehen, ohne eine Sprachentwicklung bedingt zu haben
Beispielsweise jagen Löwen erfolgreich im Rudel und Bienen sind in der Lage, Artgenossen den Standort von Nahrungsquellen mitzuteilen, ohne dabei eine komplexe Sprachfähigkeit vergleichbar der des Menschen zu besitzen
Welche Einzelfaktoren sozialer Gründe (Sozialvertragstheorie) gibt es für die Sprachentwicklung des Menschen?
Ein anderer Erklärungsansatz, der in der jüngsten Zeit immer mehr Beachtung findet, bezieht sich auf soziale Gründe für die Sprachentwicklung des Menschen
Hier werden folgende Theorien als Einzelfaktoren oder als vernetzte Faktoren für die Sprachentwicklung aufgelistet:
Koordination sozialer Verträge („Social-Contract“-Hypothese),
Paarbindung (der Scheherazade-Effekt) und
soziale Bindung (die „Gossip“-Hypthese).
Wovon geht die Sozialvertragstheorie aus?
Die Sozialvertragstheorie geht davon aus, dass der Mensch durch die Sprachentwicklung befähigt wurde, komplexe soziale Verträge mit wichtiger Bedeutung für die soziale Gemeinschaft abzuschließen (z. B. Heiratsverträge oder Handelsabkommen)
Wovon geht der Scheherazade-Effekt?
Der Scheherazade-Effekt geht davon aus, dass die Sprachfähigkeit Vorteile für die Paarbindung bietet
Entsprechend dieser These dienen linguistische Fähigkeiten als sexuelles Selektionsmerkmal und werden in der Partnerwahl eingesetzt, um Interesse zu wecken, und in den bereits bestehenden Paarbindungen werden durch Sprache die Bindungen gefestigt
Wovon geht Dunbar bei seiner „Gossip“-Theorie aus?
Die letzte, wohl bekannteste der sozialen Thesen, wurde von Robin Dunbar postuliert und basiert auf der Annahme, dass Sprachentwicklung die soziale Kommunikation und Bindung in großen Gruppen ermöglicht
Diese These stützt sich u. a. auf Forschungsbefunde, die zeigen, dass mit der zunehmenden Größe von sozialen Gruppen bei Primaten und Vögeln auch komplexere Kommunikationsformen auftreten
Dunbar geht bei seiner „Gossip“-Theorie davon aus, dass Sprache, und hier vor allem Klatsch und Tratsch, anfänglich eine ähnliche Funktion erfüllte wie die soziale Fellpflege bei Primaten („Social Grooming“), die die Bindung und Allianzen zwischen den Tieren sichert
Die Entwicklung von komplexer Sprache ermöglichte dann in größeren Gruppen den sozialen Zusammenhalt ohne die bisherige direkte Fellpflege
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