Juli 2016: “40 Jahre Mitbestimmung” - eine Standortbestimmung
Die Regelungen zur Europäischen Gesellschaft (SE) sollten eigentlich die Mitbestimmung sichern. In der Realität wird die SE jedoch vielfach zur Vermeidung der Mitbestimmung im Aufsichtsrat genutzt. Ein mitbestimmungsfreier Zustand kann dauerhaft eingefroren werden. Andererseits bietet die Europäische Gesellschaft in mitbestimmten Unternehmen auch Chancen für die Internationalisierung der Arbeitnehmervertretung. Jedoch besteht eine deutliche Bedrohung für die deutsche Mitbestimmung. Daher wäre ein Nachjustieren der Gesetze notwendig, wenn die Europäische Gesellschaft noch zum Segen für die Mitbestimmung werden soll
Das Modell der Mitbestimmung ist ein deutsches Erfolgsmodell. Es festigt den sozialen Frieden in den Betrieben. Mitbestimmung ist keine Frage der Macht, sondern der Einbindung der Mitarbeitervertreter in die unternehmerischen Entscheidungen. Sie kann dazu beitragen, die Errungenschaften der Sozialen Marktwirtschaft zu bewahren und für das digitale Zeitalter neu zu interpretieren.
Mitbestimmung als Co-Management
Verschiebung von der konventionellen Interessensvertretung („Schutz“) hin zu einem Co-Management („Gestaltung“)
Der Betriebsrat kann nun seine gestalterische Macht stärker einbringen, verliert zugleich aber die interessenpolitische Beschützerfunktion der Arbeitnehmerschaft (da er die Interessen der Geschäftsleitung stärker mittragen muss) – also die eigentliche substantielle Grundlage (Kotthoff 1998)
...die Unterschiede zwischen Interessenvertretung einerseits und Beteiligung an den Leitungsfunktionen des Unternehmens andererseits verschwimmen“ (Kommission Mitbestimmung 1998)
Viele weitere neue Themen: Nachhaltigkeit, Dekarbonisierung, Lieferketten
Hier muss die Mitbestimmung in die Offensive gehen
Herausforderung Nr. 1: Mitbestimmung schützt immer weniger Arbeitnehmer
Im Jahr 2012 arbeiteten nur noch 43 % der Beschäftigten in West- und 36 % der Beschäftigten in Ostdeutschland in privaten Unternehmen mit Betriebsrat – die Tendenz war zuletzt fallend. Auch die Anzahl paritätisch mitbestimmter Unternehmen ist erheblich gesunken – von 767 Unternehmen im Jahr 2002 auf 654 im Jahr 2012
Herausforderung Nr. 2: weiße Flecken breiten sich auf der Landkarte aus
Mitbestimmungsrechte sind gesetzlich geregelt, und Gesetze sind für alle gleich. Und doch gibt es weiße Flecke auf der Landkarte: der fehlende Schutz vor der gesetzeswidrigen Verhinderung von Betriebsratswahlen, der Behinderung von Betriebsratstätigkeit und zu hohe Hürden im Wahlverfahren
Herausforderung Nr. 3: ungebändigte Digitalisierung entwertet die Arbeit
Durch die fortschreitende Digitalisierung droht die Entwertung und Prekarisierung von Arbeit. Stichworte wie „Crowdworking“ oder „Click Workers“ stehen für eine wachsende Zahl von Soloselbstständigen, deren Löhne, Arbeitsbedingungen, Arbeitnehmerrechte und soziale Sicherheit dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen bleiben. Kein Betriebsrat kann sich heute ihrer Sorgen annehmen, da die gesetzlichen Grundlagen dazu fehlen
Herausforderung Nr. 4: der demografische Wandel verringert das Fachkräfteangebot
Der Arbeitskräftepool altert. Der nachhaltige wirtschaftliche Erfolg von Unternehmen wird zunehmend von ihrer Fähigkeit abhängen, gute und motivierende Arbeitsbedingungen für ältere Arbeitnehmer zu schaffen und Möglichkeiten für lebenslanges Lernen zu erschließen. Heute ziehen noch nicht alle Firmen mit. Hier muss die betriebliche Mitbestimmung gute Lösungen anbieten. Sonst verliert sie an Akzeptanz
Herausforderung Nr. 5: das europäische Gesellschaftsrecht lädt zur Umgehung ein
Die Transnationalisierung von Unternehmen führt dazu, dass die betriebliche und unternehmerische Mitbestimmung auf nationaler Ebene ins Leere läuft. Neue Rechtsformen wie die geplante europäische Einpersonengesellschaft würden Tür und Tor für die Umgehung der in Deutschland geltenden Regeln für die Unternehmensmitbestimmung öffnen
Unternehmensmitbestimmung in digitaler Zeit
Fehlende digitale Erfahrung der AR-Mitglieder: muss sich sowohl bei den Anteilseigner- als auch den Arbeitnehmervertretern ändern
Gerade die Arbeitnehmervertreter sind näher an den Mitarbeitern dran (Jeder Mitarbeiter ist ein Risikoverantwortlicher) und können deren Impulse zu Weiterentwicklung digitaler Geschäftsmodelle verstärken
AR-Mitglieder müssen sich auf Echtzeit-Informationen, Szenarioanalysen, proaktive Steuerung etc. im „digital supervisory board“ einstellen
Der Einfluss von KI wird auch in der AR-Arbeit steigen
“Mitbestimmung light”? Unternehmen würden es lieben…
Belegschaften müssen bei der digitalen Transformation nicht nur ‚mitgenommen‘ werden, sondern sie vielmehr aktiv mitgestalten. Umso wichtiger ist die konstruktive Zusammenarbeit von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Betriebsräten
…in Innovationszeiten kann Mitbestimmung dagegen hemmend wirken, wenn die Arbeitnehmerseite die Dynamik des Wettbewerbs oder der technologischen Entwicklung nicht spürt.
Die deutsche Mitbestimmung geht im internationalen Vergleich sehr weit. Die Unternehmen kommen mit der Mitbestimmung unterschiedlich gut zurecht. Die Einbindung von Gewerkschaft und Betriebsrat kann die Komplexität der Transformation erheblich erhöhen. Darauf müssen Unternehmen reagieren. Vor allem Unternehmen, in denen mehrere Gewerkschaften aktiv sind, stehen unter starkem Zeitdruck, wenn sie sich an Marktveränderungen anpassen müssen. Wie gehen wir damit um, dass eine Konsensorientierung gleichzeitig Experimentierfreude wecken und zudem Entwicklungsprozesse fördern muss?
Wäre eine ‚Mitbestimmung light‘ oder sogar Befreiung von Mitbestimmung für besonders innovative Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitern denkbar?
Post-Covid-19-Betriebsratsarbeit: Konfliktlinien neu denken
Betriebsratsinterne strukturelle Konfliktlinien
Repräsentation, Interessensintegration und Durchdringung breit ausdifferenzierter Altersgruppen, Geschlechter, der verschiedenartig beschreibbaren Minoritäten im Betrieb und der Berufsgruppen
innovative Richtung „digitalisierte Repräsentation“
Inhaltliche Konfliktlinien zwischen Betriebsrat und Unternehmen
Sicherstellung der Produktivität des Unternehmens und seiner Arbeitnehmer*innen; Balance der konkreten Anforderungen an das Arbeiten und der damit verbundenen individuellen und kollektiven Konsequenzen —> innovative Richtung „kollaborative Entwicklung einer Künstlichen Intelligenz (KI) mit Fokus auf mehrere Zielgrößen über die reine Produktivitätsoptimierung hinaus“
Institutionelle Konfliktlinien zwischen Betriebsrat und Aufsichtsrat
Unterentwickelter Einfluss des Betriebsrats auf die Gewerkschaftspositionen im Aufsichtsrat —> innovative Richtung „selbstbewusste und unabhängige Lobbyarbeit von Betriebsräten bei Gewerkschaften mit dem Ziel einer Kooperation auf Augenhöhe; Schaffung eines Betriebsräte-Netzwerks als Basis einer aktiveren Interessensdurchsetzung
Wertebezogene Konfliktlinien zwischen Betriebsrat und Belegschaft
Teilweise Vernachlässigung der arbeitnehmerbezogenen Werte wie z.B. mentale Gesundheit und Nachhaltigkeit —> innovative Richtung „proaktive BR-Rolle in der Organisations-, Personal- und Unternehmenskulturentwicklung durch engen Kontakt zur Belegschaft, Basisinformiertheit, strategische Planung von Aktivitäten, Institutionalisierung der Kommunikation zur Unternehmensleitung“
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