Objekterkennung: Herausforderungen
1) Wir erkennen Objekte mühelos und schnell, obwohl die Beobachtungsbedingungen und damit die retinale Projektion sich permanent ändern.
2) Einfache visuelle Merkmale sind nicht ausreiched: Welche Kanten gehören zum Objekt, welche nicht?
Phasen der Objekterkennung
Gestaltpsychologie
Eine zwischen den Weltkriegen unter deutschen (emigrierten) Psychologen (Max Wertheimer, Kurt Koffka, Kurt Lewin und Wohlgang Köhler)
Grundsatz: Der Wahrnehmungseindruck eines Objektes ist mehr als die Summe seiner Teile (d.h. hat emergente Eigenschaften), also mehr als die Zusammensetzung der kleinsten elementaren Empfindungen.
Figur-Grund-Trennung
Figur-Grund Trennung: Voraussetzung für Objekterkennung ist Trennung der „dinghaften“ Figur vom „ungeformtem“ Hintergrund
Figur und Hintergrund unterscheiden sich:
→ Bereiche, die als Figur wahrgenommen werden intensiver bzw. genauer verarbeitet (Beispiel: Diskriminationsexperimente)
→ Figur wirkt „dinghafter“ und ist leichter im Gedächtnis zu behalten
→ Figur wird als vor dem Hintergrund stehend gesehen
→ Grund wird als ungeformtes Material gesehen, das sich weiter erstreckt
→ Kontur gehört zu Figur
→ Figuren werden als geschlossene Gestalten wahrgenommen
Gestaltprinzipien
Prinzipien, nach denen einzelne Elemente zur Gestalt zusammengefügt werden
• ursprünglich als “Gesetze“ bezeichnet
• sind aber eher Heuristiken (naheliegende Schlussfolgerungen), Prinzipien
Prinzip der/des …
• Prägnanz
• Ähnlichkeit
• Guten Verlaufs
• Nähe
• Geschlossenheit
• gemeinsamen Schicksals
• Verbundenheit
• Symmetrie
• Konvexität
• …
Gestaltprinzipien: Prägnanz
Prinzip der Prägnanz / Prinzip der Guten Gestalt: Reizmuster werden so gesehen, dass resultierende Strukturen so einfach wie möglich sind.
Ähnlichkeit
Ähnliche Dinge erscheinen als zusammengehörende Gruppen.
• Kriterien: Helligkeit, Farbton, Orientierung oder Größe.
Guter Verlauf
Guter Verlauf /Fortsetzung: Punkte, die als gerade oder sanft geschwungene Linien gesehen werden, wenn man sie verbindet, werden als zusammengehörig wahrgenommen.
Nähe
Dinge, die sich nahe beieinander befinden, erscheinen als zusammengehörig.
Geschlossenheit
Tendenz zur Vervollständigung einer Figur
Gemeinsames Schicksal
Elemente, die sich in die gleiche Richtung bewegen, erscheinen als zusammengehörig
Symmetrie
symmetrisch angeordnete Elemente gehören zusammen
Konvexität
Konvexe Elemente gehören eher zur Figur, konkave zum Hintergrund.
Verbundenheit
Prinzip der Verbundenheit (Palmer & Rock, 1994): Elemente, die miteinander verbunden sind, werden als Einheit gesehen.
Dieses Prinzip dominiert andere Gestaltprinzipien, besonders bei komplexen Stimuli mit multiplen Objekten.
Gestaltprinzipien: Evaluation
Pro
• Beschreiben wesentliche Aspekte der alltäglichen Wahrnehmung
• Sind bis heute Inspiration für experimentelle Ansätze
Contra
• Sie beschreiben, aber erklären nicht (posthoc Erklärungen)
• Unklar, wie sie zu kombinieren sind, wie sie interagieren.
• Vorhersagen sind auf 2D Muster (versus 3D Objekte) beschränkt
• Vernachlässigen „top-down“- Prozesse:
• keine Annahmen über den Einfluss von Erwartungen, Wissen und Lernprozessen auf basale perzeptuelle Prozesse
Konstruktivistischer Ansatz: David Marr (1982)
• Einflußreicher Ansatz, der Psychologie, Computer- und Neurowissenschaften integriert.
• Stufenweise Verarbeitung führt von 2D zu beobachtungsunabhängigen Repräsentation, die den Abgleich mit dem Gedächtnis erlaubt.
Irving Biederman (1987): Recognition-by-Component Theory
Hauptannahme: Objekte lassen sich durch eine begrenzte Anzahl von Elementen, genannte ‚Geone‘, und ihre Anordnung beschreiben
Recognition-by-Component Theory
nicht-zufällige Eigenschaften:
hängen nicht von spezifischen Beobachtungsbedingungen ab
-> erlauben robuste Objektwahrnehmung
Konkave Regionen:
geben z.B. Hinweise auf Zusammensetzung von Geonen
Nicht-zufällige Eigenschaften - Bsp.
Beispiele
• parallele Kanten, runde Kanten
• Schnittpunkte in Pfeilform
• Schnittpunkte in Y-Form
—> unterscheiden zwischen basalen geometrischen Formen (‚Geonen‘)
Empirische Evidenz
Top-down Einflüsse
• Marr wie Biederman konzeptualisieren Objekterkennung als bottom-up Verarbeitung
• Sie vernachlässigen damit Phänomene, die top-down Verarbeitung zu benötigen scheinen.
Beispiel: Top-down integrierendes Modell
Objekterkennung als Interaktion von
- sensorischer Informationsverarbeitung (bottom-up) und
- Verhaltenszielen, Vorwissen und Erwartungen (top-down)
Gesichts vs. Objekterkennung: Gemeinsamkeiten
Gesichtserkennung ist ein spezieller Fall der Objektwahrnehmung:
- ähnlicher Ausgangspunkt (2D Kanteninformationen, V1 Repräsentationen)
- ähnliche Herausforderungen (Unabhängigkeit von Beobachtungsbedingungen)
Gesichts vs. Objekterkennung: Unterschiede (1/2)
Gesichtserkennung erfolgt auf anderem Kategorisierungsniveau.
• Fokus auf Identifizierung vs. Kategorisierung
Fokus auf andere Merkmale
• invariante Merkmale: zentral für die Identifizierung/Kategorisierung
• variable Merkmale des Gesichts: Gesichtsausdruck/Emotionen => soziale Informationen
Konfigurale/holistische Verarbeitung (2/2)
Gesichtserkennung erfolgt nicht nur durch Analyse einzelner Merkmale (wie bei Objekten)
Part-Whole Effekt
Ergebnis: Teile von Gesichtern (aber nicht Häusern) können besser erinnert werden, wenn sie innerhalb von Gesichtern gesehen werden
Face inversion effect
Beobachtung:
Gesichtserkennung ist bei invertierten Gesichtern schwerer als bei aufrecht stehenden Gesichtern (disproportional zu anderen Objekten).
Interpretation:
Inversion verhindert holistische/konfigurale Verarbeitung
Thatcher Illusion
Verzerrungen in Gesichtern, die auf den Kopf gestellt sind (invertiert), sind nur schwer erkennbar.
Interpretation
• Umkehrung verhindert konfigurale/holistische Wahrnehmung
• Gesichter werden aus Einzelteilen zusammengesetzt wahrgenommen
• Die aus der Beobachterperspektive stimmigen lokalen Merkmale (Mund, Augen) dominieren den Wahrnehmungseindruck.
Composite Face effect
Evidenz: Bildgebende Verfahren
Gesichtswahrnehmung aktiviert ein spezifisches Netzwerk an Regionen im Kortex stärker für Gesichter als andere Objekte
—> Spezifische Netzwerke sind ein Indiz für spezielle Verarbeitung von Gesichtern
Evidenz: Neuropsychologie
• Doppelte Dissoziation in der Erkennungsleistung von Gesichtern und Objekten
• Unterschiedliches Bild an neurologischer Schädigung
Konkurrierende Erklärungsansätze
Domänenspezifischer Ansatz
Expertise-Ansatz
Domänenspezifischer Ansatz:
Unterschiede zwischen Objekt- und Gesichtsererkennung sind durch funktionelle Spezialisierung zu erklären
• Es gibt spezifische, unterscheidbare kognitive Module (z.B. holistische/ konfigurale Verarbeitung), die neuronal unabhängig implementiert sind
Expertise-Ansatz:
Unterschiede zwischen Objekt- und Gesichtererkennung sind durch den unterschiedlichen Grad der Expertise zu erklären:
• Gesichtserkennung ist viel stärker geübt und erfolgt auf Ebene der Identifizierung (vs. Kategorisierung)
• Objekt- und Gesichtserkennung erfolgt in denselben kognitiven Modulen
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