Was ist Gedächtnis?
o Fähigkeit des Nervensystems, Informationen zu enkodieren, speichern, transformieren, ordnen und abzurufen (vgl. Vaterrodt-Plünnecke & Bredenkamp, 2006).
o wird durch zugrundeliegenden Prozesse beschrieben
Was wird gespeichert?
o Es kann nur das gespeichert werden, was im Gehirn stattfindet.
o gespeichert werden nicht die externen Reize selbst, sondern die durch informationsverarbeitende Prozesse entstandenen mentalen Repräsentationen
Was beeinflusst Gedächtnis?
(1) Ereignisse (was)
(2) Personen (wer)
(3) Enkodierung (Lernsituation)
(4) Abruf (Wiedergabesituation)
Systemischer Ansatz
• Gedächtnis besteht aus unterschiedlichen Systemen: Gedächtnissysteme werde deskriptiv, funktional und neuronal unterschieden
deskriptiv
anhand unterschiedlicher Anforderungen in Gedächtnisaufgaben und/oder Unterschieden des zu verarbeitenden Materials
→ theoretisch beliebig viele Unterscheidungen möglich
funktional
anhand der Funktionsweise, z.B. anhand von Merkmalen wie Kapazität, Lern- und Vergessensraten, evolutionären Genese
→ funktionelle Unabhängigkeit von Gedächtnissystemen kann durch doppelte Dissoziation gezeigt werden
neuronal
Unterscheidung auf der Basis unterschiedlicher beteiligter Hirnstrukturen
→ Gedächtnis basiert auf neuronalen und zellulären Veränderungen
Mehrspeicher-Modelle
Atkinson und Shiffrin (1968) unterschieden drei Gedächtnissysteme in Bezug auf Dauern, Menge und Art der zu behaltenden Informationen:
o sensorisches Gedächtnis / Register
- kaum verarbeitete sensorische Informationen (modalitätsspezifisch)
- Inhalte nur für sehr kurze Zeit zugänglich
o Kurzzeitgedächtnis (KZG)
- wenige sensorischen Informationen gelangen ins KZG (siehe Filtertheorien der Aufmerksamkeit)
- Ausgangspunkt für semantische Verarbeitung
- Kontrollprozesse regulieren Eingang und Aufrechterhalten sowie den Übergang in langfristige Speicher
- Annahme verschiedener Subsysteme für verschiedene Informationstypen (sprachlich, räumlich usw. → Theorien zum Arbeitsgedächtnis)
o Langzeitgedächtnis (LZG)
- unbegrenzte Speicherdauer
- Unterscheidung unterschiedlicher Systeme (deklarativ vs. non-deklarativ)
Sensorische Register
• spezifische sensorische Register für einzelne Wahrnehmungskanäle
visuelle Wahnehmung: Iconic memory
auditive Wahrnehmung: Echoic memory
• klassische Filtertheorien (z.B. Broadbents Filtertheorie) konzipieren sensorische Register als prä-attentiv
- ABER: auch auf frühesten Verarbeitungsstufen top-down Effekte möglich
Sperling (1960): klassische Paradigma zur Untersuchung vom Iconic Memory
Vpn sahen sehr kurz Matrizen mit 3 x 4 Buchstaben
- Ganzbericht: Wiedergabe aller Buchstaben (A)
- Teilbericht: Wiedergaben nur einer Reihe (B)
- im Teilbericht (B) prozentual mehr korrekt berichtete Buchstaben korrekt berichtet
- im Unterschied zum Ganzbericht von Delay des Tones abhängig
→ Speicherdauer im Iconic Memory von ca. 0.5 - 1 Sekunde (Speicherdauer im Echoic Memory länger: 2-10 Sekunden)
Merkmale vom KZG/WM
charakterisiert durch begrenzte Dauer und begrenzte Kapazität
o Kapazität z.B. durch Digit-Span Test erfassbar
• Miller‘s (1956) „Magical number seven“: ⌀ Kapazität bei 7 ( 2 ) Items
o Leistung in Span-Tests durch Informationen im LZG beeinflussbar: Chunking
SPDCDUFDP vs. SPD CDU FDP
o Leistung kann durch Übung gesteigert werden
Unterscheidung zwischen KZG/WM und LZG
• funktionale Unterscheidung anhand serieller Positionseffekte
• Studie von Postman & Phillips (1965): Wortlisten lernen
o zwei UVs manipuliert:
- Länge der Wortlisten: 10, 20 oder 30 Wörter
- Abrufzeitpunkt: nach 0, 15 oder 30 Sekunden
o AV: Wahrscheinlichkeit der korrekten Wiedergabe der Wörter in Abhängigkeit ihrer Position
o Ergebnisse:
- bei unmittelbarer Abfrage: zwei unterschiedliche serielle Positionseffekte:
→ der Primacy Effekt und der Recency-Effekt
- bei verzögerter Abfrage (nach gefüllter Pause)
→ nur noch Primacy-Effekt
• Primacy-Effekt wird dem LZG und der RecencyEffekt dem KZG/WM zugeordnet
• weitere Evidenzen aus Patientenstudien:
o bilateralen Schäden im medialen Temporallappen (z.B. Patient H.M.)
- Schwierigkeiten bei längerfristiger Speicherung neuer Informationen
- normale Alltagskonversationen möglich
- Hinweis, dass Prozesse und Strukturen des LZGs beeinträchtig sind, aber nicht das KZG/WM (z.B. Patient H.M.)
o Störungen im linken parietalen Temporallappen (z.B. Patient K.F.)
- Schwächen in Aufgaben zum KZG/WM (digit span)
- längerfristige Speicherung neuer Informationen möglich
Weiterentwicklung der Mehrspeichermodelle
• Empirische Studien zeigen Ähnlichkeiten und Verknüpfungen zw. KZG und LZG
o Chunking: Inhalte aus LZG beeinflussen Leistung in KZG
o ähnliche Annahmen zum Vergessen, teils überlappende Hirnareale
o Studien von Craik und Tulvig (1975) zum Einfluss der Verarbeitungstiefe:
• Ausdifferenzierung des KZG→ Theorien zum Arbeitsgedächtnis
• Entwicklung alternativer Modelle → Einspeichermodelle
Arbeitsgedächtnis ersetzt das KZG
• Definition des Arbeitsgedächtnisses nach Alan Baddeley:
o hoch dynamische Form des Gedächtnisses, das über Sekunden hinweg operiert und zeitlich begrenzt Informationen für eine detaillierte Analyse speichert und aufrechterhält
o „representing a map of a central area of cognition“ (Baddely et al. 2021)
o Unterteilung des Arbeitsgedächtnisses in ursprünglich 3 Komponenten:
- zentrale Exekutive
- phonologische Schleife
- visuell-räumlicher Notizblock
• Idee des “Arbeitsgedächtnisses“ betont unterschiedliche Komponenten mit unterschiedlichen Funktionen, die je nach Aufgabe herangezogen werden
• Forschung zum Arbeitsgedächtnis konzentriert sich auf die Frage nach der Aufrechterhaltung/Bereitstellung von Informationen in einem kapazitätsbeschränkten System, dessen Funktion die effiziente Verarbeitung und Aktualisierung von Informationen ist
Phonologische Schleife
Phonologischer Speicher
• Akustische Sprachinformation hat direkten Zugang zum phonologischen Speicher
• Ohne Rehearsal zerfällt Information innerhalb von 1,5 – 2 Sekunden
Phonologischer Output-Buffer
• Information gelangt vom phonologischen Speicher in den Output-Buffer
• Sprachproduktion
Artikulatorischer Kontrollprozess: Rehearsal
• Inhalt des phonologischen Speichers kann durch inneres Sprechen aufrecht erhalten werden
Phonologische Rekodierung
• Visueller Sprachinput kann in phonologischen Kode transformiert werden
→Zugang zum phonologischen Speicher
Phonologische Schleife - Zentrale Befunde
Zentrale Befunde zur Phonologischen Schleife
• Wortlängeneffekt:
o längere Wörter benötigen mehr Zeit
o „rehearsal“ quasi in Echtzeit
• Phonologischer Ähnlichkeitseffekt:
o Rehearsal basiert auf phonologischen Repräsentationen
• Irrelevant sound effect:
o sprachl. Informationen haben direkten Zugang zur Loop
o behindern schon in der Loop befindliche Informationen
• Artikulatorischer Suppressionseffekt:
schlechtere Erinnerungsleistung wenn nebenbei Sprache produziert wird
o Sprechen verhindert „rehearsal“
o rehearsal zentral für Aufrechterhaltung
Funktionen der phonologischen Schleife
• Zentral für Spracheverstehen und Sprachproduktion:
o an Aktivierung und Aufrechterhaltung von sprachl. Informationen aus LZG beteiligt
• wichtige Funktion bei Spracherwerb
o vor allem beim Lernen neuer Vokabeln und Sprachen (z.B. Verbindungen zw. Vokabeln beim Lernen von Fremdsprachen)
• wichtig beim Lesenlernen:
Kinder mit normaler Intelligenz und Problemen beim Lesenlernen:
o oft geringere Gedächtnisspanne
o schlechtere Leistung in phonologischen Aufgaben
• wichtig für flexible Verhaltenssteuerung:
o beteiligt an Aufrechterhaltung ziel- und aufgabenrelevanter Information (Hinweisreize, Aufgabenregeln, Instruktionen)
Offen ist, inwieweit die Phonologische Schleife zur Verarbeitung anderer akustischer Reize genutzt wird oder es dafür getrennte Systeme gibt.
Visuell-räumlicher Notizblock
Beispiele für Aufgaben und typische Befunde:
• Mentales Scannen und Mentale Rotation:
o benötigte Zeit ist proportional zu realen Bewegungen
o Hinweis auf modale Repräsentationen mit räumlichen Eigenschaften
• Grenzerweiterung (Boundary Extension)
o oft Erinnerung von Informationen über den Bereich des Sichtbaren hinaus
o Informationen werden ergänzt, aber nur wenn Wissen im LZG vorhanden
→ Hinweis das Verarbeitung von Informationen im LZG beeinflusst
• Mentale Repräsentation sind dynamisch
o Representational Momentum: Gedächtnisfehler, nach dem bewegende Objekte an falschen Stellen erinnert werden
- Repräsentationen Sketchpad sind bewegungssensitiv: Orts- und Lageveränderungen weiter fortsetzt
- Sketchpad zentral für Bewegungswahrnehmung und Planung
Visuell-räumlicher Notizblock - 2
• Komponente für Verarbeitung von räumlichen und visuellen Informationen
o zentral sowohl für Wahrnehmung als auch für visuelle Vorstellung
o am Zusammenführen von visuellen Informationen beteiligt (binding)
o enthält Repräsentationen einzelner Merkmale aber auch Objektrepräsentationen
• zwei Hauptbestandteile
o Visual cache:
Speicher für Informationen über visuelle Formen (auch Farben)
o Inner scribe:
Verarbeitung räumlicher Informationen und Bewegungen, ist auch am Rehearsal visueller Informationen und an Interaktion mit dem LZG beteiligt
• gibt Evidenzen für getrennte Teilsysteme für Verarbeitung räumlicher und visueller Informationen
o Unterschiede in aktivierten Hirnregionen
- visuell: okzipital und temporal
- räumlich: vor allem parietal
o räumliche Distraktoren beeinflussen räumliche Verarbeitung stärker als visuelle
Zentrale Exekutive
• Die Zentrale Exekutive ist die wichtigste Komponente:
o ist an allen höheren und komplexeren Prozessen beteiligt, ohne selbst über Speichersysteme zu verfügen
o ist modalitätsunabhängiges Kontrollzentrum:
- Manipulation der Inhalte der Subsysteme
- Zuweisung von kognitiven Ressourcen
• Kontrollfunktion vor allem mit Aktivität im präfrontalen Kortex assoziiert:
o Störungen (z.B. durch Schädigung des Frontallappens) führen zur Schädigung der Aufmerksamkeitssteuerung und Verlust von exekutiver Kontrolle:
- Perseveration bzw. ständiges Wiederholen von Handlungen (Änderung von Regeln führt nicht zur Änderung in Handlung)
- erhöhte Ablenkbarkeit: besondere Anfälligkeit für ablenkende Distraktoren, Aufmerksamkeit scheint zu aufgabenirrelevanten Reizen abzuschweifen
• auch andere Hirnregionen sind mit zentraler Exekutive assoziiert: vgl. Netzwerke zur Aufmerksamkeitskontrolle (fronto-parietal vs. dorsal)
Exekutive Kontrolle
• Baddeley geht von vier konkreten Aufgaben der Exekutiven Kontrolle aus:
➢ Koordination unter dual-task-Bedingungen
➢ flexibles Wechseln zwischen Strategien
➢ Aufmerksamkeitsfokussierung und Inhibition
➢ Selektive Aktivierung, Aufrechterhaltung und Manipulation von Information aus dem LZG
• Empirische Studien haben mit Hilfe clusteranalytischer Verfahren drei zentrale Aspekte exekutiver Kontrolle identifiziert
➢ „Updating“: Überwachung und Aktualisierung von Arbeitsgedächtnisrepräsentationen
➢ „Inhibition“: Unterdrückung jeweils aktuell vorherrschender kognitiver und motorischer Antworttendenzen
➢ „Switching“: Kognitive Flexibilität zwischen unterschiedlichen Strategien und mentalen Zuständen zu wechseln
Die Annahme eines einheitlichen Kontrollsystems ist “oversimplified”.
Episodischer Buffer
• Baddeley (2003, 2012): klassisches 3-Komponenten Modell kann etliche empirische Befunde nicht erklären
o Wie werden semantische Informationen aus dem LZG genutzt, die z.B. beim Chunking zur Bildung von größeren Einheiten genutzt werden?
o Warum können auch semantische Informationen die Funktion der phonologischen Schleife beeinflussen?
o Wie werden die Informationen aus der phonologischen Schleife und dem visuell-räumlichen Notizblock zusammengeführt?
• Eine Lösung ist die Annahme einer weiteren Komponente: Episodischer Buffer
o Speicher, der alle Arten von Informationen zusammenfügt
- multimodale Kodierung
- integriert Inhalte der anderen Subsysteme des Arbeitsgedächtnisses
- zentral für Interaktion mit dem Langzeitgedächtnis
Aktuellere Versionen des Arbeitsgedächtnismodels
• Baddeley selbst formulierte in verschiedenen Überblicksartikeln eine Reihe von offenen Fragen bzgl. aller Komponenten (vgl. Baddely et al. 2021)
• sieht sein Modell als Versuch, die Interaktion zwischen Gedächtnis und Aufmerksamkeitsprozessen zu erklären
Alternativen zum Baddeley-Model: Embedded-Processes-Modell (Cowan 1995, 1999)
• Befunde wie die von Craik & Tulving (1975) führten zur Entwicklung alternativer Einspeichermodelle oder state-based models (vgl. Esposito & Postle, 2015)
o Grundidee: Inhalte im LZG mehr oder weniger aktiv sind
o Arbeitsgedächtnis = aktivierter Teil des LZG (gibt kein extra „RAM“)
o eine Teilmenge der aktivierten Inhalte fallen zusätzlich in den Fokus der Aufmerksamkeit und können damit bewusst werden
• Cowan (2000): ohne rehearsal und chunking liegt Kapazität bei 4 ± 1 → “magical number 4”
Arbeitsgedächtnis und Aufmerksamkeit
• Aufmerksamkeit ist gatekeeper fürs Arbeitsgedächtnis:
o Aufmerksamkeitsprozesse bestimmen, was ins Arbeitsgedächtnis kommt
• Aufmerksamkeit agiert aber auch auf den Inhalten des Arbeitsgedächtnises:
o Cowans Modell zeigt, dass Aufmerksamkeit Inhalte im Arbeitsgedächtnis auswählen und dadurch ihre Aktivierung erhöhen kann
o Priorisierung durch Aufmerksamkeit erklärt Kapazitätsgrenzen (4 ± 1)
• Inhalte des Arbeitsgedächtnisses bestimmen auch Selektion und damit visuellräumliche Aufmerksamkeitsprozesse
o aktivierte Inhalte verändern Schwellen und mit ihnen verbundener Salienzfilter
o top down Effekte
Für Arbeitsgedächtnis und Aufmerksamkeit sind überlappende Hirnregionen/Netzwerke beobachtet wurden
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