Evidenzen für verschiedene Gedächtnissysteme - Amnesien
o bei retrograden und anterograden Amnesien zeigen sich Unterschiede für Erinnerungen an Fakten und persönliche Erlebnisse vs. Wissen um das Ausführen von Bewegungen/Handlungen
Taxonomie des Langzeitgedächtnisses
Deklaratives Gedächtnis
• oft als explizites Gedächtnis bezeichnet
o umfasst verbalisierbares Wissen über Fakten und Ereignisse („Wissen, dass…“)
o Unterteilung in episodisches Ereigniswissen und semantisches Faktenwissen geht auf Endel Tulving (1972) zurück
o untersucht mit expliziten Lern- und Abrufaufgaben
Nicht-deklaratives Gedächtnis
• oft als implizites Gedächtnis bezeichnet
o Inhalte, die nicht verbal berichtet werden können
o Inhalte zeigen sich im Verhalten („Wissen, wie…“)
• umfasst unterschiedliche Gedächtnisformen:
o Bahnung/Priming: erleichterte Verarbeitung als Konsequenz einer vorangegangenen Verarbeitung
o Assoziatives Wissen: Ergebnis vom Konditionierungslernen
o Habituation/Sensitivierung: nicht-assoziatives Lernen
o prozedurales Wissen: kognitive und motorische Fertigkeiten
• Untersuchung anhand impliziter Tests (z.B. Spiegelschriftlesen, Sequenzlernen)
• deklaratives Gedächtnis:
- mit Aktivität im Neokortex und im medialen Temporallappen (vor allem Hippocampus) assoziiert
• nicht-deklaratives Gedächtnis:
- mit Aktivität in subkortikalen Regionen assoziiert → z.B. Basalganglien
• nicht-deklarative Gedächtnisstrukturen werden ontogenetisch früher genutzt als deklarative Strukturen
• sind robuster gegenüber Schädigungen:
- vielen Patienten mit Störungen im deklarativen Gedächtnis zeigen gute Leistungen in impliziten Gedächtnistests, obwohl diese teils sehr unterschiedliche Prozesse beinhalten
• Entwicklung alternativer Ansätze, die Unterschiede in zugrundeliegenden Prozessen (Enkodierung, Abruf etc.) betonen
Episodisches vs. Semantisches Gedächtnis - sem.
• semantisches Gedächtnis enthält Sachwissen
o Inhalte haben keine zeitlich-räumliche Einbettung:
z.B. Sprache, Fakten (Paris = Hauptstadt von Frankreich) aber auch konzeptuelles Wissen (Was ist eine Hauptstadt?)
o Forschung zum semantischen Gedächtnis fokussiert auf konzeptuelles Wissen
- Wie sind Konzepte repräsentiert (abstrakt, multimodal???)
- Wie ist konzeptuelles Wissen organisiert (hierarchisch, basierend auf semantischen Beziehungen???)
- Wie werden Konzepte in größeren Strukturen organisiert (Einfluss von Schemata?)
Episodisches vs. Semantisches Gedächtnis - ep.
• Episodische Gedächtnis beinhaltet Wissen über persönliche Erlebnisse
o Inhalte sind orts- und zeitgebunden:
- Was geschah
- Wo geschah es
- Wann geschah es
o entwickelte sich nach Tulving evolutionär aus dem semantischen Gedächtnis
→ entsteht auch ontogenetisch nach dem semantischen Gedächtnis: ab dem Alter von 3-4 ist eigene Person Bestandteil von Erinnerungen
Episodisches Gedächtnis
• Episodische Gedächtnisinhalte werden nicht mit allen Details abgespeichert und später wieder abgerufen
→ gerade Gedächtnisleistungen bzgl. des episodischen Gedächtnis sind das Ergebnis von Konstruktions- und Rekonstruktionsprozessen
• sind anfällig für Fehler, z.B. Erinnerungen an Episoden/Details, die so gar nicht stattgefunden haben:
o misinformation effect:
Beeinflussung von Augenzeugenberichten durch im Nachhinein präsentierte Informationen
o false memory:
z.B. scheinbare Erinnerung an Wörter, die nicht in der zu lernenden Liste aber hoch mit den gezeigten Wörtern assoziiert waren
Episodisches Gedächtnis: Misinformation
• Studie von Loftus & Palmer (1974)
o Teilnehmer:Innen sahen Video über einen Autounfall mit mehreren Autos
o anschließend wurden Fragebögen beantwortet
- (a) "How fast were the cars going whenthey hit each other?“
- (b) "How fast were the cars going whenthey smashedinto each other?“
- (c) “Did you see the broken glas?
• Warum so viele Fehler?
→ (Re-) Konstruktion ist sparsamer/effektiver:
- oft reicht Erinnerung an grobe Zusammenfassung (gist-like)
- „Anreicherung“ passiert, wenn sie mit anderen diskutiert/geteilt werden
Funktionen des Episodischen Gedächtnisses
• liefert uns Orientierung in der raum-zeitlichen Welt
• hilft, zukünftige Ereignisse vorzustellen:
o Abruf vergangener und Vorstellen zukünftiger Ereignisse ist mit Aktivität in überlappenden Hirnregionen verbunden (inklusive Hippocampaler Regionen)
o Verweis auf (re)konstruktive Natur des episodischen Gedächtnisses
• Vorstellen zukünftiger Ereignisse ist aufwändiger und mit mehr Aktivität verbunden
• viele höhere kognitive Funktionen nutzen episodisches Gedächtnis:
z.B. Lesen und Textverstehen, Problemlösen, kreatives Denken
Autobiographisches Gedächtnis
• besonderer Bestandteil des episodischen Gedächtnisses
• beide Formen beinhalten persönliche Erfahrungen, aber:
o Episodisches Gedächtnis oft im Labor anhand von Wortlisten studiert
o Autobiographisches Gedächtnis an Ereignisse mit persönlicher Signifikanz gebunden (außerhalb des Labors)
• Studien zeigen wesentliche Unterschiede:
o autobiographische Erinnerungen oft komplexer und besser strukturiert als episodische Erinnerungen
o autobiographische Erinnerungen beinhalten oft auch Faktenwissen (semantische Inhalte)
o Umgang mit autobiographischen Erinnerungen geht mit Aktivierungen in vielen Hirnarealen einher
• Besonderheiten des autobiographischen Gedächtnisses werden als Ergebnis von häufigen Abruf- und Reorganisationsprozessen interpretiert
Episodisches vs. Semantisches Gedächtnis
• Haben wir wirklich zwei getrennte Systeme?
o Metaanalysen zeigen für Patienten mit (retrograden) amnestischen Störungen stärkere Beeinträchtigungen des episodischen im Vergleich zum semantischen Gedächtnis (z.B. Spiers et al., 2001), vor allem wenn Hippocampus betroffen
o andere Patienten zeigen semantische Demenz bei gutem episod. Gedächtnis
o Neuronale Differenzierung:
Episodisches Gedächtnis: → medialer Temporallappen, vor allem Hippocampus
Semantisches Gedächtnis: → rhinaler und perirhinaler Kortex
• neuere Befunde sprechen für ausgeprägte Interdependenz beider Systeme
o viele Informationen im Autobiograph. Gedächtnis sind faktisches Wissen
o initial episodisches Wissen (reich und detailliert) wird mit der Zeit oft in semantisches Wissen (kurze schematische Repräsentation) überführt: Semanticisation
Semantisches Gedächtnis & Konzepte
• semantischen Gedächtnis enthält konzeptuelles Wissen
o mentale Repräsentationen von Objekten oder Ereignissen wie „Hunde“ oder „Geburtstage“ werden nach Gemeinsamkeiten zusammengefasst
o Bildung von Konzepten bzw. Kategorien
• Konzepte/Kategorien ermöglichen:
o Zusammenhänge sichtbar zu machen
o Schlussfolgerungen zu ziehen (und sind damit Grundlage für Verstehen)
o neue Erfahrungen mit bereits vorhandenem Wissen in Kontakt zu bringen
• Konzepte/Kategorien werden durch implizite und explizite Lernprozesse gebildet und verändert (z.B. durch Generalisierung und Diskrimination):
→ sind Produkt der Interaktion von Strukturen in der Welt und informationsverarbeitenden Systemen
• bilden die Grundlage für Sprache und Kommunikation
• sind zentral für alle (höheren) kognitiven Funktionen (z.B. Objektwahrnehmung, Emotionserkennung, Denken, Urteilen)
Grundsätzliche Organisationsprinzipien
• Konzepte/Kategorien werden nach Ähnlichkeit gebildet, nicht nach festen Definitionen im Sinne von notwendigen und hinreichenden Bedingungen
• Eleanor Rosch und Kollegen (1976) identifizierte drei zentrale Ebenen:
• Rosch zeigte, dass Kategorien Attribute (Merkmale) zugeordnet sind, dies vor allem auf dem Basislevel und den untergeordneten Ebenen
Drei Ansätze zum Semantischen Gedächtnis
• theoretische Ansätze zu Semantischen Gedächtnis machen Annahmen über Repräsentationen der Bedeutung von Konzepten/Kategorien und Wörtern
• es lassen sich drei Arten von Theorien unterscheiden:
Assoziative Netzwerktheorien
Merkmalsbasierte Theorien
Distributionale Theorien
Assoziative Netzwerktheorien (z.B. Collins & Qulillian, 1969; Collins & Loftus, 1972)
- Konzepte sind individuelle Knoten in großen Netzwerken
- Konzepte mit ähnlicher Bedeutung sind miteinander verbunden
Merkmalsbasierte Theorien (z.B. Tversky, 1977; Barsalou,1999)
- Konzepte sind als verteilte Sammlung binärer Merkmale dargestellt (z. B. Vögel = Flügel, Autos ≠ Flügel)
- Korrelation oder Überschneidung dieser Merkmale bestimmt, inwieweit Konzepte ähnliche Bedeutungen haben
Distributionale Theorien (z.B. Landauer & Dumais, 1997)
- beinhalten explizite Mechanismen, wie Konzepte (und Wörter) aus der natürlichen Umgebung gelernt werden:
Bedeutung von Wörtern wird gelernt durch die Extraktion statistischer Redundanzen und Kookkurrenzmuster in natürlicher Sprache
• Assoziative Theorien (z.B. Collins & Quillian, 1969) gehen von hierarchischer Struktur semantischer Netzwerke aus
• Idee der strikten hierarchischen Organisation des semantischen Wissens empirisch nicht bestätigt
Satzverifikationstudien
• Modellannahmen durch Satzverifikationsstudien getestet
o Hierarchie-Ebenen Effekt
o Merkmalsvererbungseffekt
• Hierarchie-Ebenen-Effekt und Merkmalsvererbungseffekt wurden bestätigt
• Befunde wie Typikalitätseffekt oder oder Ähnlichkeitseffekt sind nicht mit ursprünglichem Modell erklärbar
• nach dem Ansatz von Collins und Loftus (1975) ist semantisches Gedächtnis nach Ähnlichkeiten und semantischen Distanzen organisiert
Semantische Distanzen und Spreading Acitvation
• Semantische Distanzen zwischen Kategorien/Konzepten sagen die Leistungen in vielen Gedächtnisaufgaben (Listen lernen, Wortpaare lernen), aber auch in Aufgaben zur Sprachproduktion voraus
o Ein Erklärungsansatz dafür ist das Prinzip des Spreading Activation: Aktivierung breitet sich entlang der Verbindungen aus
Definition von Kategorien/Konzepten
• Nach Rosch werden Kategorien/Konzepte so gebildet, dass Ähnlichkeiten innerhalb einer Kategorie maximiert und Ähnlichkeiten zwischen Kategorien minimiert werden
o es bestehen keine klaren Grenzen zwischen Kategorien/Konzepten
o Kategorien/Konzepte werden durch Bündel von Merkmalen repräsentiert
- sind typisch, aber nicht unbedingt notwendig oder hinreichend
- charakteristische Merkmale sind Bestandteil des Prototyps:
→ entsteht aus Abstraktion über konkrete Exemplare entsteht
• Ergebnisse neurowissenschaftlicher Studien legen nahe, dass Kategorien nicht nur über Prototypen sondern auch über andere Mechanismen (z.B. feste Definitionen, Exemplare, implizite Definitionen) gebildet werden
Welche Art sind die Repräsentation?
• Klassische kognitive Theorien postulieren grundlegenden Annahmen zur Repräsentation von Kategorien/Konzepten
o erfolgt durch abstrakte Symbole
o sind stabil (immer ein und derselbe Knoten), mit anderen verbunden
o sind sehr ähnlich (geringe interindividuelle Unterschiede)
• Grundannahmen ermöglichen Vorhersagen/Erklärungen für höhere kognitive Funktionen (Denken, Schlussfolgern, Sprache), aber:
o Kategorien/Konzepte auch für Wahrnehmung und Handlung, also Funktionen die auf modalen Repräsentationen beruhen, relevant
Alternativer Ansatz: Grounded Cognition
• Alternativer Ansatz: Grounded Cognition (vgl. Barsalou, 1999; 2008)
o Repräsentationen von Kategorien/Konzepte sind modal: perceptual symbols
o Evidenzen: Aktivierung in spezifischen sensorischen und motorischen Arealen beim Lesen von Wörtern (z.B. Hauk et al. 2004)
• Hub-and-Spoke-Model (Patterson et al. 2007) verbindet klassische Idee der abstrakten Repräsentation mit Ideen des Grounded Cognition
Hub-and-Spoke Model
• Grundidee: Kategorien/Konzepte in unterschiedlichen Formaten repräsentiert
o abstrakte Repräsentationen: Hubs im anterioren Temporallappen
o modalitätsspezifische Repräsentationen: Spokes in den sensorischen Arealen (z.B. visueller Kortex, auditiver Kortex)
• obwohl dieses Model einen guten Kompromiss darstellt, lässt es noch viele Fragen offen, z.B. wie Beziehungen zwischen Konzepten gespeichert sind
• dazu gehören z.B. konnektionistische (Lern-)Modelle und neuronale Netzwerke
• orientieren sich an biologischen Gegebenheiten im Gehirn: gewichtete Verbindungen zwischen Input- und Output-Units
• basieren auf Idee dass Informationsverarbeitung parallel über große Anzahl verteilter Einheiten erfolgt
• basieren auf assoziativen Lernprozessen
• unterschiedliche Arten von Modellen:
o ohne (a) und mit (b und c) verdeckten Ebenen
o selbstorganisierte Netzwerke vs. angeleitete Netzwerke
Weitere Organisationsprinzipien
Evidenzen für verschiedene Gedächtnissysteme
• Patientenstudien liefern Evidenzen auf funktionaler und neuronaler Ebene
o Unterschiedl. Beeinträchtigungen bei Verletzung in unterschiedl. Bereichen
o Bsp. HM.: konnte keine neuen Erinnerungen aufbauen oder sich neue Fakten merken, aber z.B. neue motorische Abläufe erlernen
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