Was macht den Emotionsbegriff so schwierig aber auch so interessant?
• Sind Emotionen immer mit bewusstem, potentiell verbalisierbarem, subjektivem Erleben verbunden?
• Ist das subjektive Erleben der Hauptbestandteil einer emotionalen Episode oder eher ein (unbedeutender) Seitenaspekt?
• Wie hängen Kognitionen und Emotionen zusammen? Sind Emotionen etwas anderes als Kognitionen oder selbst eine Art Kognition?
• Welche Rolle spielen körperliche Veränderungen während oder für Emotionen?
Arbeitsdefinition
Eine Emotion ist eine auf ein bestimmtes Objekt ausgerichtete affektive Reaktion, die mit zeitlich befristeten Veränderungen des Erlebens und Verhaltens einhergeht.
Intentionalität (Objektgerichtetheit)
➢ Emotionen sind immer auf „etwas“ Anwesendes, Erinnertes, Vorgestelltes oder Erwartetes ausgerichtet
➢ entscheidend ist nicht Bezugsobjekt selbst, sondern die subjektive Einschätzung der Auftretenswahrscheinlichkeit
Affektivität (Gefühlscharakter)
➢ Phänomenologie von emotionalen Erlebnissen durch Valenz (wie angenehm oder unangenehm) charakterisiert
➢ affektive Empfindungen können bewusst werden, müssen es aber nicht
Zeitliche Dynamik und begrenzte zeitliche Dauer
➢ Emotionen sind mehr oder weniger eng an das (erwartete) Auftreten ihres Bezugsobjekts gekoppelt
➢ Affektivität kann sich im Verlauf einer Episode verändern
Begriffsbestimmung – verwandte Termini
• Arbeitsdefinition erlaubt Abgrenzung zu verwandten Begriffen wie Stimmung, Affekt, Temperament, Einstellung oder emotionale Disposition.
o Stimmungen
➢ Zeit: längere Dauer
➢ Affektivität: weniger intensiv
➢ ABER: klare klare Trennung zw. Emotionen und Stimmungen oft nicht möglich (Bsp: Emotionale Episode kann sich zu länger andauernder Stimmung entwickeln)
o Affekt
➢ Affektivität: Oberbegriff für alle subjektiven bewusste Erfahrung
o Emotionale Dispositionen (z.B. Temperament) und Einstellungen
➢ Zeit: zeitlich relativ stabile Eigenschaften von Personen, z.B. in Bezug auf die Beurteilung von Reizen und Situationen
Funktionen von Emotionen
• nach Frijda und Scherer (2009) haben Emotionen vier wesentliche Funktionen
o betonen jeweils einen anderen Aspekt
o beeinflussen andere Prozesse bei Entstehung und im Verlauf
1) Emotionen sind zentral für Bewertung von Ereignissen, ihrer Relevanz und ihrer Konsequenzen für unsere Bedürfnisse, Pläne und Werte
➢ Bewertungen sind zentral für die Auslösung emotionaler Episoden
2) Emotionen sind zentral für Vorbereitung von adäquaten Handlungen bzgl. der bewerteten Ereignisse und die (mentale und körperliche) Anpassung an diese
3) Emotionen sind zentral für die Integration von Informationen aus ersten beiden Phasen in eine zentrale Repräsentation, die eine Überwachung und Regulation möglicher Reaktionen erlaubt
4) Oft (aber nicht immer) sind Emotionen zentral für die Kategorisierung und Kommunikation (emotionaler Episoden) gegenüber anderen Menschen
Neuronale Grundlagen
• Historische Vorläufer gehen auf James Papez und Paul MacLean zurück
o Papez (1937): emotionales Erleben und körperliche Reaktionen sind mit einem neuronalen Netzwerk (Papez-Circuit) assoziiert
o MacLean ( 1949): baut auf Papez auf und bestimmt ‚dreieiniges Gehirn‘ mit drei interagierenden emotionalen Netzwerken
MacLeans ‚dreieiniges Gehirn‘
Reptiliengehirn (protoreptilisches Hirn)
o Instinktives Verhalten, Aktivitäten zum Überleben
o Primitive Emotionen wie Furcht, Aggressionen
➢ Hirnstamm (Medulla, Pons, Pallidum, etc.)
Säugetiergehirn (paleomammalisches Hirn)
o Integrierte primitive Reaktionsmuster mit sozialen Funktionen
o Komplexe (erlernte) Emotionen
➢ Amygdala, (Hypo)thalamus, Hippocampus, cingulärer Kortex
Neocortex (Neomammalisches Hirn)
o Schnittstelle von Emotion und Kognition (z.B. Emotionen sprachlich ausdrücken)
➢ Kortikale Areale wie (Prä)frontaler Kortex
—> Regionen bis Heure aktuell
Die Rolle der Amygdala
Amygdala: zentrale Region für emotionale Verarbeitungsprozesse
• ist stark mit anderen kortikalen und subkortikalen Regionen vernetzt
• empfängt sensorische Informationen und reguliert so die emotionalen Reaktionen von Gehirn und Körper
• ist an wichtigen Prozessen im Zusammenhang mit Emotionen beteiligt:
o Dekodierung von emotional relevanter Information
➢ früher als “Angstzentrum” bezeichnet
➢ ABER: auch bei positiven Reizen aktiv
o assoziative emotionale Lernprozesse
➢ Patienten mit Schädigungen der Amygdala lernen z.B. keine konditionierte Angstreaktion
o Konsolidierung von emotionalen Gedächtnisinhalten
➢ erhöhte Aktivität in Amygdala erhöht Wahrscheinlichkeit der Konsolidierung im LZG
Komponentenmodelle der Emotionsforschung
• Emotionen haben subjektiv erfahrbare und objektiv erfassbare Komponenten, die zielgerichtetes Verhalten begleiten bzw. fördern und damit eine Anpassung an aktuelle Lebensbedingungen ermöglichen (vgl. z.B. Scherer, 2005)
Komponentenmodelle der Emotionsforschung - 2
• Vorteil einer multidimensionalen Sichtweise:
o Studien zu unterschiedlichen Aspekten von Emotionen möglich
o unterschiedliche Erfassung möglich: nicht nur Selbstberichte
o erlaubt Betrachtung von emotionalen Episoden:
➢ Differenzierung unterschiedlicher Verläufe im Sinne einer Sequenz von Aktivierungen der einzelnen Komponenten
• Nachteil der multidimensionalen Sichtweise: viele offene Fragen
o Gibt es hinreichende und/oder notwendige Komponenten?
o Wie hängen einzelne Komponenten zusammen bzw. beeinflussen sich gegenseitig?
Klassifikation und Struktur von Emotionen
• Es gibt zwei unterschiedliche Wege Emotionen zu differenzieren:
(1) Kategoriale Ansätze oder Theorien diskreter Emotionen
Annahme einer begrenzten Zahl von universellen und evolutionär entstandenen Basisemotionen, aus denen sich alle komplexeren Emotionen „zusammensetzen“
→ Es sollten sich also qualitativ verschiedene Emotionen, wie Trauer, Freude, Furcht und Ekel auf den unterschiedlichen Komponenten voneinander abgrenzen lassen.
(2) Dimensionale Ansätze
→ Annahme einer begrenzten Zahl grundlegender Dimensionen, mit denen das subjektive Emotionserleben beschrieben werden kann
→ die Dimensionen werden oft als unkorrelierte (orthogonale) Dimensionen gesehen, die bekanntesten sind Valenz und Arousal
Kategoriale Ansätze
• basiert auf evolutionsbiologischen Ansätzen von Darwin (1872) und der Idee, dass Basisemotionen die evolutionäre Antworten auf grundlegende adaptive Anforderungen der Verhaltenssteuerung (z.B. Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung, Schutz vor Feinden) sind
o Basisemotionen und ihr Ausdruck im Verhalten sind angeboren
o im Laufe der Evolution durch den Prozess der natürlichen Auslese entstanden
o Mimischer Ausdruck als adaptive Reaktion des Organismus
• Untersuchung der neuronalen Grundlagen am Tiermodell vor allem durch Jaak Panksepp (1982, 1992)
o tierexperimentellen Studien vor allem an Ratten (Hirnstimulation, Läsionsstudien, neuropharmakologischen Studien)
o Identifizierung von sieben Basisemotionen + zugehörige Netzwerke: SEEKING, FEAR, RAGE, PANIC, und LUST, CARE, PLAY
Kategoriale Ansätze: Basisemotionen
• Definition von Basisemotionen nach Paul Ekman (1992)
(1) haben angeborene Basis (sind dann z.B. auch bei Primaten zu finden)
(2) treten bei allen Menschen unter ähnlichen Umständen auf (z.B. Trauer nach Verlust)
(3) haben unverwechselbaren Ausdruck im Verhalten, vor allem einen spezifischen Gesichtsausdruck
(4) lösen distinkte physiologische Veränderungen aus
(5) haben kohärentes Reaktionsmuster
(6) werden automatisch (d. h. schnell und ungewollt) ausgelöst
• Trotz dieser Kriterien variiert die Anzahl der unabhängigen (daher diskreten) Emotionen je nach konkreter Theorie
Kategoriale Ansätze: frühe Studien
• kulturvergleichende Studien zum Emotionsausdruck von Paul Ekmann
→ Ekman et al. (1969) zeigten Personen aus unterschiedlichen Kulturkreisen Fotografien von menschl. Gesichtern zusammen mit sechs Emotionswörtern
Kategoriale Ansätze: Anzahl Basisemotionen
Dimensionale Ansätze
• Grundidee: Beschreibung aller Emotionen anhand spezifischer Dimensionen
• Wilhelm Wundt (1896): dreidimensionales Model zur Beschreibung von Gefühlsverläufen (bipolare Dimensionen)
o Lust – Unlust (Valenz)
o Erregung – Beruhigung (Aktivierung)
o Spannung – Lösung (Erwartungshaltung)
• Russell (1980): zweidimensionales Circumplex-Model (bipolare Dimenionen)
• Valenz (angenehm-unangenehm)
• Arousal
Zum Beispiel:
- Freude: positiver Affekt + Erregung
- Langeweile: negativer Affekt + Entspannung
Dimensionale Ansätze: Evidenzen
• z.B. Studien mit linguistischem Ansatz: Berichte und Einschätzungen
1) Auflistung aller Emotionswörter
2) Bestimmung der Ähnlichkeiten
3) Analyse der latenten Dimensionen
o Studien zu Emotionswörtern, aber auch Studien zur Bewertung von Gesichtsausdrücken, von Bildern und vom emotionalen Potential bestätigen Dimensionen Valenz und Arousal
• für beide Dimensionen können biologische Korrelate identifiziert werden
o Arousal korreliert z.B. mit Hautleitwiderstand und Herzrate
o Valenz korreliert mit Aktivität der Gesichtsmuskeln
➢ positive Valenz: Aktivität im Zygomatikus (G) - rot
➢ negative Valenz: Aktivität im Corrugator (B) - blau
Wie entstehen Emotionen?
• Herleitung der Entstehung von Emotionen: Biologische und kognitive Ansätze
o Biologische Emotionstheorien verstehen Emotionen als evolutionär erprobte Reaktionen, die von bestimmten Reizen automatisch ausgelöst werden
o Kognitive Emotionstheorien (Appraisaltheorien) heben die Bedeutung von Bewertungen und Einschätzungen für die Emotionsentstehung hervor
• Zusammenhänge zwischen diesen Ansätzen und dimensionale/kategorialen Theorien
o Stärkerer Zusammenhang zwischen:
➢ dimensionalen Ansätzen und kognitiven Emotionstheorien
➢ kategorialen Ansätzen und biologischen Emotionstheorien
Biologisch-prozedurale Ansätze
James-Lange-Theorie (1887):
• Ereignis löst körperliche Veränderung aus (z.B. Anstieg der Herzfrequenz, Schwitzen)
• körperliche Veränderung wird als Emotion wahrgenommen
z.B. Wir fühlen uns traurig, weil wir weinen.
Cannon-Bard-Theorie (1927):
• emotionale Wahrnehmung findet parallel zur körperlichen Veränderung statt
• körperliche und emotionale Reaktion erfolgt parallel und unabhängig voneinander
→ Heute weiß man, dass körperliche Zustände emotionales Erleben beeinflussen!
Kognitive Appraisal-Theorien
• Hauptannahme: Emotionen entstehen aufgrund von subjektive Einschätzungen von Situationen (Appraisals)
• Nebenannahmen:
o Emotionen können auf der Grundlage einer begrenzten Anzahl von Appraisal-Kriterien vorhergesagt werden (z.B. Valenz, Zielrelevanz, Erwartbarkeit, Motiv- und Zielkongruenz, Kontrollierbarkeit)
o Appraisal löst jeweils spezifische Reaktionen in physiologischen, motivationalen und expressiven Systemen aus
• Stärke: können gut inter- und intraindividuelle Unterschiede in emotionalen Reaktionen erklären
• Schwäche: Unterschiedlichen Annahmen zu den Appraisal-Prozessen
→ keine Klarheit, wann und unter welche Bedingungen welche Bewertungen stattfinden, welche sind automatisch ablaufen etc.
• Beispiele für Appraisaltheorien sind die Ansätze von Arnold (1960), Lazarus (1991), Reisenzein (2001), oder Frijda (1988)
Kognition vs. Emotion?
• nicht jede Emotion wird über Kognition vermittelt:
→ Kognitionen sind am subj. Erleben von Emotionen beteiligt
→ schnelle Verhaltensreaktionen können auch ohne vermittelnde Kognitionen entstehen
• Bsp sind die von LeDoux (1996) postulierte Wege für die Entstehung von Angst:
a) Low Route als direkte Verbindung ohne kortikale Beteiligung
→ von Rezeptoren - zum Thalamus - zur Amygdala
b) High Route als langsame Route, die sensorischen Areale + Präfrontale Regionen einschließt
In aktuellen Arbeiten geht LeDoux (LeDoux & Hofman, 2018) davon aus, dass Verhaltensreaktionen und körperliche Reaktionen selbst keine Emotionen sind, aber indirekt zu bewussten emotionalen Erfahrungen beitragen.
Emotion und Kognition
• intrinsisches Erleben wird sowohl von Gedanken als auch Gefühlen beeinflusst
o Forschung zu höheren kognitiven Prozessen z.B. Urteilen, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Sprache oder Denken ignorierte lange den Einfluss von Emotionen
• Emotion und Kognition sind keine unabhängige Faktoren (vgl. Robinson et al. 2013)
o sie sind sich wechselseitig beeinflussende Phänomene
o sie aktivieren ähnliche neuronale Netzwerke
o können trotzdem voneinander unterschieden werden
• Ergebnisse vieler Studien belegen, dass Emotionen viele Prozesse in diesen Bereichen beeinflussen (vgl. Blanchette & Richards, 2010)
• Forschung im Kontext von Emotionsregulation liefern Evidenzen, das Kognitionen Emotionen beeinflussen (vgl. McRea, 2016)
Emotion und Aufmerksamkeit
• Emotionen beeinflussen die Breite des Aufmerksamkeitsfokus
o Effekte können mit allen klassischen Paradigmen der Aufmerksamkeitsforschung gezeigt werden (z.B. Flanker Task, Stroop Task, visuelle Suche)
• Wie beeinflussen Emotionen den Aufmerksamkeitsfokus? Gable & Harmon-Jones (2010):
Effekt hängt nicht von Valenz sondern von motivationaler Intension und Intensität ab
o Emotionen mit hoher Intensität engen den Fokus ein (vereinfacht Annährung bzw. Vermeidung)
o Emotionen mit niedriger Intensität erweitern den Fokus (erleichtert Exploration)
Emotion und Gedächtnis
Emotionen beeinflussen:
• Langzeitgedächtnis und Vergessen
o emotionale Ereignisse werden langsamer vergessen, vor allem negative
o Vorteil für emotionale Ereignisse nimmt mit der Zeit zu
• Enkodierung, Konsolidierung und Abruf:
o Enkodierung: Emotionale Reize erhalten mehr Aufmerksamkeit
o Konsolidierung: Emotionale Information werden bevorzugt konsolidiert
o Abruf: Mood-Congruency Effekt
emotionales Material kann am besten gelernt und erinnert werden, wenn Stimmung zum Zeitpunkt des Lernens und des Abrufs kongruent ist
Zusammenfassung zur Begriffsbestimmung und den neuronalen Grundlagen
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