Kulturgeschichte Quellenauswahl + Schritte Quellenanalyse
Vielfalt der Quellen: Die Kulturgeschichte neigt dazu, eine breite Palette von Quellen zu berücksichtigen. Neben traditionellen schriftlichen Quellen wie Dokumenten und Büchern werden auch visuelle Quellen (wie Gemälde, Fotografien), materielle Kultur (wie Alltagsgegenstände), mündliche Überlieferungen und Populärkultur (wie Filme oder Musik) herangezogen. Diese Quellen bieten Einblicke in die kulturellen und sozialen Kontexte der untersuchten Epoche.
Alltagsgeschichte: Quellen, die Einblicke in das alltägliche Leben und die sozialen Praktiken der Menschen geben, werden besonders geschätzt. Tagebücher, Briefe, Rechnungen und private Dokumente können wichtig sein, um ein tieferes Verständnis der sozialen und kulturellen Dynamiken zu gewinnen.
Symbolische und ideologische Quellen: Die Kulturgeschichte legt großen Wert auf Quellen, die Symbolik, Ideologie und kulturelle Bedeutungen widerspiegeln. Dies können beispielsweise religiöse Texte, politische Propaganda oder literarische Werke sein, die kulturelle Vorstellungen und Werte reflektieren.
Kontextualisierung: Die Quellenanalyse beginnt mit der Kontextualisierung der Quelle. Es wird untersucht, in welchem sozialen, politischen und kulturellen Kontext die Quelle entstand. Dazu gehört die Analyse der Herkunft der Quelle, des Entstehungszeitraums, des Verfassers und der beabsichtigten Zielgruppe.
Inhaltsanalyse: Im nächsten Schritt wird der Inhalt der Quelle detailliert untersucht. Dies umfasst die Identifikation zentraler Themen, Motive und Symbole. Die Analyse versucht zu verstehen, welche kulturellen und sozialen Werte, Überzeugungen und Praktiken durch die Quelle vermittelt werden.
Interpretation: Die Quelle wird im Hinblick auf ihre Bedeutung und Funktion innerhalb des kulturellen und sozialen Kontextes interpretiert. Hierbei wird auch untersucht, wie die Quelle zu einem tieferen Verständnis der historischen Realität beitragen kann und welche kulturellen oder ideologischen Narrative sie transportiert.
Kritische Reflexion: In der Kulturgeschichte wird auch eine kritische Reflexion der Quelle vorgenommen. Dazu gehört die Überprüfung der Authentizität und Verlässlichkeit der Quelle sowie die Reflexion über mögliche Bias oder Perspektiven des Verfassers. Die Frage, wie die Quelle die kulturellen und sozialen Realitäten abbildet oder konstruiert, wird ebenfalls kritisch hinterfragt.
Integration in die Forschung: Schließlich wird die analysierte Quelle in die breitere Forschung integriert. Die gewonnenen Erkenntnisse werden in den Kontext der Forschungsthese und der bestehenden historiographischen Diskussion eingeordnet. Die Kulturgeschichte bemüht sich, die Quelle in die komplexen Netzwerke von Bedeutungen und Symbolen einzubetten, die das kulturelle Leben vergangener Gesellschaften prägen.
Quellen in Zeitgeschichte
Sperrfristen und Zugang zu Quellen
Für Zeitgeschichtsforschung gelten oft dreißigjährige Sperrfristen.
Bei NS- und DDR-Forschung wurden Sperrfristen teilweise aufgehoben (z.B. Nürnberger Prozessakten).
Personenbezogene Quellen haben häufig längere Wartezeiten oder benötigen Zustimmung der Betroffenen.
Privilegierte Quellennutzung
Beispiel: Arnulf Baring's Buch „Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel“ wurde kritisiert, weil der Autor während seiner Forschung Unterstützung des amtierenden Bundespräsidenten Scheel erhielt.
Methodische Anforderungen
Zeitgeschichtliche Quellen müssen dieselben methodischen Anforderungen wie alle historischen Dokumente erfüllen.
Neuartige Quellen durch technologische Entwicklungen (Foto, Audio, Film, EDV) erfordern spezifische Quellenkritik.
Oral History
„Oral History“ (mündliche Geschichte) gewinnt Informationen durch Interviews mit Zeitzeugen.
Herausforderungen:
Gedächtnis und subjektive Erfahrung der Zeitzeugen.
Einfluss des Interviewers und mögliche Umdeutungen durch die Zeitzeugen.
Harald Welzer kritisiert, dass Zeitzeugenerzählungen oft eher darstellen, wie etwas heute gesehen wird, als wie es tatsächlich war.
Einige Projekte zielen darauf ab, subjektive Erfahrungen nachzuvollziehen, nicht immer auf „Wahrheitsgetreue“ Rekonstruktion.
Moderne Medien und deren Rolle
Audio-visuelle Medien stellen eine neue Herausforderung für die Geschichtswissenschaft dar.
Historische Forschung zu diesen Quellen ist noch im Anfangsstadium, und die Auswirkungen der digitalen Revolution sind noch unklar.
Komplexität der Untersuchung von Medienquellen
Heterogenes Forschungsfeld ohne verbindliche methodische Standards.
Erfordert medientheoretische und -technische Kenntnisse (Drehbücher, Kameraarbeit, Schnitt).
Untersuchungskomplexität durch viele Beteiligte, ökonomische und rechtliche Rahmenbedingungen sowie vielfältige Rezeption.
Kulturgeschichte 3.3
Aufschwung der Kulturgeschichte:
Seit den 1990er Jahren hat die Kulturgeschichte an Bedeutung gewonnen, vor allem durch zeitgenössische Entwicklungen wie die Rückkehr der Religion auf die Weltbühne.
Diese Entwicklungen stellten modernisierungstheoretische Ansätze in Frage, die einen kontinuierlichen Fortschritt im westlichen Stil annahmen.
Um solche Phänomene zu erklären, wurde deutlich, dass vielschichtige Analyseansätze nötig sind.
Ergänzung und Erneuerung der Sozialgeschichte:
Aspekte, die in der Forschung zuvor vernachlässigt wurden, sollten neu betrachtet werden.
Kulturgeschichte ergänzt die Sozialgeschichte um neue Perspektiven.
Historischer Kontext:
Kulturhistorische Ansätze gab es schon um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, sie wurden jedoch durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen.
Die Entwicklungen seit den 1990er Jahren greifen diese alten Stränge der historischen Arbeit wieder auf, wenden sich jedoch von der Strukturgeschichte und ihren quantifizierenden Methoden ab.
Interdisziplinäre Arbeitsweise:
Kulturgeschichte arbeitet oft interdisziplinär und nutzt Methoden aus anderen Fachbereichen, wie der Historischen Anthropologie.
Ein zentraler Aspekt ist die Verbindung von mikrogeschichtlichen Perspektiven (kleine Gebiete oder spezifische Personengruppen) mit makrogeschichtlichen Perspektiven.
Breites Forschungsfeld:
Die „Neue Kulturgeschichte“ verwendet einen sehr weiten Kulturbegriff, der alle Bereiche des menschlichen Lebens umfasst.
Der Fokus liegt weniger auf der Eingrenzung des Gegenstandsbereichs, sondern darauf, wie die Forschungsgegenstände aus bestimmten Perspektiven betrachtet werden.
Bedeutungskonstruktionen:
Kulturgeschichte fragt nach Bedeutungskonstruktionen, also wie Menschen sinnvolle Lebenszusammenhänge geschaffen haben, indem sie bestimmte Dinge mit bestimmten Bedeutungen belegten.
Viele kulturgeschichtliche Untersuchungen beschäftigen sich mit der Repräsentation sozialer Ordnung.
Fließende Übergänge zu anderen historiographischen Perspektiven:
Die Übergänge zu anderen Perspektiven, wie der Geschlechtergeschichte, sind fließend.
Beschreibung der Quelle
Einführung zur Fotografie:
Die Fotografie gehört zu den bekanntesten Bildern des 20. Jahrhunderts, was ihre Betrachtung erleichtert, weil wir sie historisch einordnen und ihre Echtheit bestätigen können.
Das Historische Museum nennt jedoch nicht den Fotografen, weshalb vermutet wird, dass es ein Pressefotograf war.
Bekanntheit des Motivs und Herausforderungen:
Die große Bekanntheit des Fotos erschwert gleichzeitig eine objektive Analyse, weil wir bereits viel darüber wissen und möglicherweise eine emotionale Bindung dazu haben.
Niethammer spricht von der "Gefahr der historischen Distanz", was bedeutet, dass unser heutiges Wissen die Wahrnehmung des damaligen Verständnisses verzerrt.
Beispiel zur Gefahr der historischen Distanz:
Ein Vergleich wird zum Kalten Krieg gezogen: Heutzutage wissen wir, dass er weitestgehend friedlich verlief, aber dies verdeckt die damalige alltägliche Bedrohung, die die Menschen empfanden.
Ebenso ist Brandts Kniefall für uns heute mit positiven Bedeutungen besetzt, aber es ist fraglich, ob Zeitgenossen dies genauso sahen.
Inhaltliche Zusammenfassung
Beschreibung des Bildes:
Das Bild zeigt einen Mann mittleren Alters, der auf einem Podium vor einer Statue niederkniet.
Der Mann trägt einen langen schwarzen Mantel, keinen Hut, und hat einen ernsten Gesichtsausdruck. Seine Hände sind übereinander gelegt, was fast wie eine betende Haltung aussieht.
Mehrere Kameras sind auf ihn gerichtet, und um ihn herum steht eine große Menschenmenge.
Es handelt sich um eine Schwarz-Weiß-Fotografie, was das Wetter schwer einschätzbar macht, aber nasser Boden und warme Kleidung deuten auf einen trüben Herbst- oder Wintertag hin.
Am oberen Bildrand befindet sich ein Schriftzug, der vom Deutschen Historischen Museum als Willy Brandts Signatur erklärt wird.
Neutraler Blick auf das Bild:
Durch die neutrale Beschreibung wird versucht, den vorgeformten Blick abzulegen. Im nächsten Schritt soll das Vorwissen mit der Beschreibung kombiniert werden.
Kontextualisierung
Ereignis und historischer Kontext:
Der kniende Mann auf dem Foto ist Willy Brandt, und das Ereignis fand am 7. Dezember 1970 statt.
Zu diesem Zeitpunkt war Brandt Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.
Brandt war nach Warschau gereist, um den Warschauer Vertrag zu unterzeichnen, der die Oder-Neiße-Linie als westliche Grenze Polens festlegte. Dies war in Deutschland umstritten, weil es bedeutete, dass die im Zweiten Weltkrieg verlorenen Gebiete im Osten endgültig aufgegeben wurden.
Der Warschauer Vertrag war ein wesentlicher Bestandteil von Brandts neuer Ostpolitik, die auf eine Annäherung und bessere Beziehungen zu den Ländern des Ostblocks abzielte.
Der Kniefall und seine Bedeutung:
Während seines Besuchs in Warschau legte Brandt einen Kranz am Ehrenmal im jüdischen Ghetto nieder und kniete unerwartet nieder.
Diese Geste hatte großen symbolischen Charakter, weil diplomatische Besuche normalerweise sehr streng geplant sind und von Protokollen geleitet werden.
Brandts biografischer Hintergrund spielte ebenfalls eine Rolle: Als Mitglied der Arbeiterbewegung war er vor dem nationalsozialistischen Regime ins Ausland geflohen und hatte die Jahre 1933 bis 1945 überwiegend im Exil verbracht. Seine Geste der Entschuldigung und die Aufgabe der Ostgebiete waren daher besonders bedeutend und wurden von konservativen Gruppen kritisiert.
Ikonische Bedeutung des Kniefalls:
Für heutige Beobachter hat der Kniefall fast eine ikonische Bedeutung und steht für einen wichtigen Schritt in der deutschen Vergangenheitsbewältigung und letztlich auch für die Wiedervereinigung.
Das Foto selbst betont die Bedeutung des Ereignisses, indem es die Fotografen in der direkten Sichtachse zeigt und eine freie Fläche vor Brandt lässt, was Raum für eigene Assoziationen schafft.
Fragestellungen des Kulturgeschichte
Bildanalyse und Interpretation:
Das Bild kann als allgemeine Bitte um Entschuldigung interpretiert werden, nicht nur für die Verbrechen an polnischen Juden.
Im linken Bildrand ist eine Waffe zu erkennen, was eine gewisse Bedrohlichkeit der Situation darstellt.
Brandts knieende Haltung und der ruhige Bildmittelpunkt der Leere schaffen eine fast sakrale Atmosphäre, die Schuld, Sühne und Vergebung vereint, was zur ikonischen Bedeutung des Fotos beiträgt.
Zeitgenössische und heutige Wahrnehmung:
Die Deutungen beziehen sich hauptsächlich auf die Wahrnehmungen unserer Zeit. Die gehobene Bedeutung des Kniefalls im Rückblick kann durch Brandts Signatur auf dem Foto verdeutlicht werden.
Obwohl unklar ist, wann die Signatur erfolgte, zeigt sie, dass Brandt bereit war, diesen Moment als zentral für sich und seine Kanzlerschaft anzuerkennen.
Zeitgenössische Rezeption:
Der Text betont die Wichtigkeit, die Reaktionen der Menschen zur Zeit des Ereignisses zu untersuchen.
Die vielen Menschen und Kameras um Brandt herum zeigen, dass der Kniefall auch in Polen viel Aufmerksamkeit erregte.
Die stark zensierte Presse der damaligen Zeit war auf diesen „Ausbruch“ aus dem Protokoll nicht vorbereitet und ignorierte das Ereignis weitgehend. Nur eine polnisch-jüdische Zeitung druckte ein Foto ab.
In Deutschland war die Reaktion gemischt: Eine Umfrage des Allensbach-Instituts zeigte, dass 41% der Befragten den Kniefall angemessen fanden, während 48% ihn übertrieben fanden.
Grenzen der Quelle
Unterschiedliche Wahrnehmungen damals und heute:
Die Fotografie des Kniefalls wird heute ganz anders wahrgenommen als damals.
Um das zu verstehen, ist es wichtig, auch andere Quellen wie Meinungsumfragen zu betrachten.
Für eine ausführlichere Analyse wäre es sinnvoll, Kommentare aus verschiedenen Medien unmittelbar nach dem Kniefall und in den Jahrzehnten danach zu vergleichen, um den Wandel der Rezeption nachzuvollziehen.
Veränderte Erinnerungskultur:
Die positive Betrachtung der Fotografie heute hängt mit der veränderten Erinnerungskultur in Deutschland zusammen.
Der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit hat sich geändert.
Heutige Betrachter können auch die Erfolge der neuen Ostpolitik Willy Brandts bewerten, die zum Fall des „Eisernen Vorhangs“ beigetragen hat.
Symbolik und Bedeutung des Fotos:
Die Fotografie steht für die heftigen innerdeutschen Debatten über Ostpolitik und die Erinnerung an die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes.
Der Wandel in der Rezeption einer Quelle im Laufe der Zeit wird deutlich.
Kulturgeschichtlicher Ansatz:
Die Analyse konzentriert sich weniger auf Willy Brandt selbst und seine Motivation für den Kniefall, sondern mehr auf die gesellschaftliche Wahrnehmung seiner Handlung.
Der Text zitiert Jens Jäger, der sagt, dass Fotografie eine soziale Praxis ist und ihre Bedeutung durch den gesellschaftlichen Kontext und die Zuschreibungen und Verwendungszusammenhänge erhält.
Last changed4 months ago