Literatur und kulturelle Differenz
1. Einleitung: Literatur und kulturelle Differenz
Zentraler Gedanke: Die Beschäftigung mit Literatur und kultureller Differenz ist besonders relevant, da kulturelle Identität immer im Vergleich zu anderen Kulturen definiert wird.
Kultur wird durch Abgrenzung von anderen Kulturen verstanden.
Begriffserklärung: Der Begriff kulturelle Differenz ist präziser als das oft verwendete Begriffspaar Eigenes-Fremdes:
Kulturen werden nicht als statische, klar abgrenzbare Blöcke verstanden.
Die Wahrnehmung von Unterschieden zwischen Kulturen setzt ein Subjekt voraus, das diese Differenzen in interkulturellen Begegnungen feststellt und interpretiert.
Selbstdarstellung durch Fremddarstellung: Die Diagnose kultureller Differenz beschreibt weniger „das Fremde“, sondern gibt vielmehr Aufschluss über den eigenen kulturellen Standpunkt.
Kulturelle Differenz ist also oft mehr Selbstdarstellung als Fremddarstellung.
2. Kulturen als dynamische Gebilde
Kulturwissenschaftliche Sichtweise: Kulturen sind keine statischen, unveränderlichen Gebilde (Essentialismus).
Sie entstehen durch performative Akte, die temporär festgelegt werden.
Inter- und intrakulturelle Differenzen:
Interkulturelle Differenzen: Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen.
Intrakulturelle Differenzen: Unterschiede innerhalb einer Kultur, die teilweise größer sein können als die Differenzen zwischen Kulturen.
3. Der Begriff des Fremden
Vielschichtige Bedeutung: Der Begriff Fremd umfasst eine Vielzahl von Bedeutungen, von Unvertrautem bis hin zum Unheimlichen.
Diese Bedeutungen werden in verschiedenen Sprachen unterschiedlich ausgedrückt (z.B. externum, alien, étrangère, etc.).
Relationaler Begriff: Fremd ist immer in Bezug auf das Eigene zu verstehen und nicht als Eigenschaft „an sich“.
Fremdheit ist eine kulturelle Wahrnehmung, die im Zusammenhang mit kultureller Differenz interpretiert wird.
4. Interkulturelle Literaturwissenschaft
Forschungsfeld: Die interkulturelle Literaturwissenschaft beschäftigt sich mit den Beziehungen zwischen Literatur und kultureller Differenz.
Seit den 1970er Jahren als eigenständiges Arbeitsgebiet der Germanistik etabliert.
Hintergrund:
Reaktion auf die Herausforderungen einer globalisierten Welt.
Umgang mit kulturellen Differenzen wird zu einem zentralen Thema gesellschaftlicher und politischer Debatten.
Fachliche Neuausrichtung: Innerhalb der Germanistik spielte die viel diskutierte Krise des Fachs eine Rolle.
Durch eine stärkere kulturwissenschaftliche und interkulturelle Ausrichtung gewann die Disziplin neue gesellschaftliche Relevanz und Selbstbewusstsein.
Arbeitsgebiete interkultureller Literaturwissenschaft
1. Arbeitsgebiete der interkulturellen Literaturwissenschaft
Zentrale Themen: Die interkulturelle Literaturwissenschaft untersucht die Darstellung kultureller Differenzen in literarischen Texten.
Beispiele: Reiseliteratur, Ethnopoesie (Mischung aus Ethnologie und Literatur, wie bei Hubert Fichte), ethnologischer Roman.
Selbst- und Fremdbilder: Analyse von Selbst- und Fremdbildern, die zur Diagnose kultureller Differenzen führen.
Die Funktion dieser Diagnose kann verschiedene Rollen spielen:
Abgrenzung: Strikte Trennung zwischen positiver eigener Kultur und negativ fremder Kultur (wie bei Edward Said in Orientalism).
Kritik der eigenen Kultur: Fiktiver fremdkultureller Blick auf die eigene Kultur, der Kritik ermöglicht (wie in Montesquieus Lettres Persanes).
Kritischer Exotismus: Idealisiertes Bild fremder Kulturen als Korrektiv zur eigenen, defizitären Kultur.
2. Intrakulturelle Differenzen
Beispiele:
Thematisierung intrakultureller Differenzen in der Großstadtliteratur, deutsch-jüdischer und deutsch-türkischer Literatur.
Science Fiction: Darstellung realer inter- und intrakultureller Differenzen durch imaginäre Welten, z.B. Konflikte zwischen Menschen und Außerirdischen oder Robotern.
Fiktionalisierung von Kulturkonflikten: Intrakulturelle Differenzen werden oft durch fiktionale interkulturelle Konflikte thematisiert:
Irdische Konflikte wie Kolonialismus oder sozialdarwinistische Kämpfe werden in der Science Fiction auf Aliens/Roboter übertragen.
3. Kulturelle Differenz und andere Differenzformen
Geschlechterdifferenz: Interferenzen zwischen kultureller Differenz und Geschlechterdifferenz.
Kolonialliteratur: Eigene Kultur wird als männlich, fremde Kultur als weiblich dargestellt.
Heart of Darkness: Die Reise nach Afrika wird als Reise in das Innere der menschlichen Seele interpretiert.
4. Formale Aspekte kultureller Differenz in der Literatur
Import von Gattungstraditionen: Übernahme von literarischen Formen aus anderen Kulturen, z.B. orientalische Gedichtform Ghasel oder Türkenoper.
Sprachliche Vielstimmigkeit: Aufnahme von Wörtern, Redewendungen oder grammatischen Strukturen aus unterschiedlichen Sprachen.
Intertextualität: Bezugnahmen zwischen Texten aus verschiedenen Sprach- und Kulturräumen.
Hybridität: Vermischung sprachlicher und literarischer Formen aus unterschiedlichen Sprachen und Kulturen.
5. Sozial- und diskursgeschichtlicher Kontext
Beispiele: Verortung interkultureller Literatur in spezifische Kontexte, wie z.B. in der Gastarbeiter- und Migrantenliteratur.
Grundlegende Theoriekonzepte interkultureller Literaturwissenschaft
1. Zentrale Theorieansätze der interkulturellen Literaturwissenschaft
Komparatistische Imagologie:
Beschäftigt sich mit Selbst- und Fremdbildern in der Literatur, den sogenannten Auto- und Heterostereotypen.
Entwickelte sich in den 1950er Jahren in der französischen Komparatistik, als Reaktion auf die stärker werkimmanente amerikanische Komparatistik.
In Deutschland von Hugo Dyserinck durch das „Aachener Programm“ in die Komparatistik eingeführt.
Interkulturelle Germanistik/Hermeneutik:
Im Zentrum steht die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der interkulturellen Kommunikation.
Entstand in den 1970er und 1980er Jahren durch Impulse aus der Auslandsgermanistik im Bereich „Deutsch als Fremdsprache“ (DaF).
Postkoloniale Theorie:
Untersucht soziale und politische Machtverhältnisse in interkulturellen Begegnungen.
Entstand nach der Dekolonialisierung in den ehemaligen Kolonien (z.B. die Négritude-Bewegung von Léopold Sédar Senghor und Aimé Césaire sowie die Arbeiten von Frantz Fanon).
Wurde in den 1970er Jahren vor allem in der amerikanischen Literaturwissenschaft populär.
In Deutschland lange marginal, da der deutsche Kolonialismus als geringfügig betrachtet wurde.
Seit der Jahrtausendwende gewinnt die postkoloniale Theorie in Deutschland an Bedeutung.
2. Interdisziplinarität und Internationalität der Theorieansätze
Diese Theorieansätze sind keine originär germanistischen Theorien:
Komparatistische Imagologie: Theoriekonzept aus Frankreich.
Interkulturelle Germanistik: Einfluss aus der Auslandsgermanistik und dem Fachbereich Deutsch als Fremdsprache.
Postkoloniale Theorie: Entwickelte sich im internationalen Kontext, vor allem nach der Dekolonialisierung.
3. Historische Entwicklung der Theorien
Es gibt eine historische Abfolge der Theorien:
Komparatistische Imagologie: Erste Theorieoption, entstanden in den 1950er Jahren.
Interkulturelle Germanistik: Weiterentwicklung in den 1970er und 1980er Jahren.
Postkoloniale Theorie: Aktuellster Theorieansatz, der besonders ab der Jahrtausendwende in Deutschland an Bedeutung gewann.
Alle drei Theorien sind weiterhin relevant und werden je nach Untersuchungsgegenstand und Erkenntnisinteresse flexibel eingesetzt.
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