Welche Themenbereiche werden in dieser Vorlesung behandelt und worauf muss bei den Themen als Therapeut geachtet werden?
Kulturbegriff: klassisch und modern
klassisch: Homogenität & Abgrenzung
▪ soziale Homogenisierung
▪ verlaufend an nationalen Grenzen
▪ statisch
▪ Abgrenzung zum Selbsterhalt
modern: geteilte Bedeutungsräume
▪ überlappende Grenzen
▪ Herkunft nur ist nur ein Aspekt (Religion, soz. Milieu, Stadt/Land, Sprache)
▪ Prozess, um Schaffung von Bedeutungsräumen (Ort, Sprache, Erlebnisse, die Menschen teilen)
Indikation von Kultursensibler Therapie
▪ im weiten Sinn ist jede Therapie inter-/transkulturell (unterschiedliche Bedeutungsräume)
▪ Indikation im engerem Sinn: Begegnung von Angehörigen unterschiedlicher kultureller Gruppen
▪ störungs- und therapieverfahrenübergreifend
▪ Achtung ist keine neue Therapie für PatientInnen anderer Kulturen/Ethnien! (Othering)
▪ impliziert die kultursensible Anwendung klinisch psychologischer Diagnostik & psychotherapeutischer Methoden
▪ Kultursensibilität = Zustand erhöhter Reflexionsbereitschaft, kritischer Haltung ggü. der eigenen Arbeit und Offenheit ggü. den Pat.-Anliegen
Interkulturelle Kompetenz: Wissen (kognitiv)
zentrale Begriffe und allgemeine Konzepte
Rassismus, Vorurteilsbildung
Religiosität, Familienstrukturen, Selbstkonzepte
Rolle v. Sprache
kulturspezifische Einflüsse auf menschliches Verhalten
eigene kulturelle Eingebundenheit
Interkulturelle Kompetenz: Einstellungen & Bewusstsein (affektiv)
▪ Selbstreflexion (d. eigenen kulturellen Eingebundenheit)
▪ Empathie und Perspektivwechsel (cultural role taking)
▪ Vorurteilsbewusstheit
▪ Ambiguitätstoleranz & Wertefreiheit
▪ Offenheit & Neugier
Interkulturelle Kompetenz: Fertigkeiten (behavioral)
▪ Hinzuziehen von Sprachmittlern
▪ Flexibilität & Methodenvielfalt: Anpassung des Behandlungsplans und der therapeutischen Methoden an kulturelle Hintergründe
▪ Einsatz kultursensitiver Diagnostikverfahren
▪ Proaktiver Umgang mit Nicht-Wissen (Nachfragen)
▪ flexibler Wechsel zwischen Individual-, Gruppen- und Universalebene
Interkulturelle Kompetenz: gesamtes Modell
Die eigene kulturelle Prägung: Reflexionsfragen
▪ Wie wird in meiner Familie kommuniziert (laut oder leise, direkt oder indirekt, häufig oder selten)?
▪ Gibt es in meiner Familie Tabus? Wenn ja, welche?
▪ Wie wird mit Zeit umgegangen?
▪ Woran erkennt ein Außenstehender, wer in meiner Familie Autorität besitzt?
▪ Sind mit dem Geschlecht bestimmte Rollenbilder oder Verhaltensweisen verbunden?
▪ Welche Rituale sind in meiner Familie wichtig?
▪ Worauf sind die Menschen meiner Kultur stolz?
▪ Wofür schämen sich die Menschen meines Kulturkreises?
▪ Welche Bedeutung haben Individuum und Gruppe?
Interkulturelle Kompetenz beinhaltet nicht:
▪ eigene Wertvorstellungen aufzugeben oder PatientInnen aufzunötigen
▪ alles über die Kultur der PatientInnen zu wissen
▪ streng kulturspezifischen Handlungsanweisungen zu folgen
▪ Behandlungsmethoden aus den Erfahrungskreis der PatientInnen aufzunehmen
▪ auf dem eigenem Vorgehen zu beharren
▪ davon auszugehen, es mit ganzen neuen, anderen Störungsbildern zu tun zu haben (Othering)
▪ Psychotherapie neu zu erlernen (Othering)
Welche Kulturspezifischen Einflüsse gibt es alles?
nonverbale Kommunikation
Kommunikationsstile
Emotionsausdruck
Selbstkonzept
Kulturell geprägte Kommunikationsstile
▪ high vs. low context communication (Anteil und Bedeutung nonverbaler Kommunikation)
▪ Parasprache (Begleitaspekte verbaler Sprache):
▪ Sprechpausen
▪ Lautstärke
▪ Direktheit
▪ Kinesik (Körpersignale):
▪ Lächeln
▪ Blickkontakt
▪ Intensität des Emotionsausdrucks
▪ Proxemik
▪ universell, angeboren (Basisemotionen) vs. sozial geprägt, erlernt (z.B. Scham, Schuld)
▪ sekundäre Emotionen (erlernter Emotionsausdruck)
MERKE:
Schritt 1: Wahrnehmung der Emotion auf der phänomenologischen Ebene
Schritt 2: Einbettung in den kulturellen Kontext
Schritt 3: Rückschluss auf das psychische Geschehen
Kulturelle Prägung: Selbstkonzept
egozentrisch
soziozentrisch
ökozentrisch
kosmozentrisch
Therapierelevanz kultureller Prägungen
Erwartung an die Therapie und die therapeutische Rolle
(z.B. der Therapeut als „Autoritätsperson“ als wissender „Heiler“)
Psychoedukation zum Thema „Was ist Psychotherapie“
Erklärungsmodelle (z.B. Verwünschung)
Pat.-Erklärungsmodell nicht bewerten, gleichwertig zum eigenen Erklärungsmodell betrachten und nach Möglichkeit ins eigene Erklärungsmodell integrieren
Therapieziel (z.B. soziale Anerkennung wiedergewinnen)
sofern nicht im Widerspruch zum Behandlungsrational:
Therapieziel = PatientInnen-Ziel
Diagnostik im ICD-10/11 von kulturellen Aspekten
ICD-10: kaum kulturelle Aspekte
Z60: Kontaktanlässe in Bezug auf die soziale Umgebung inklusive Schwierigkeiten bei der kulturellen Eingewöhnung
ICD-11: Leitlinie zur kultursensiblen Anwendung (guidance for cultural considerations)
Diagnostik im DSM-5
DSM-5: berücksichtig kulturelle Aspekte
unterscheidet 3 Formen kulturell gebundener Leidenskonzepte:
Kulturelle Syndrome
z. B. Ataque de nervios = Gefühl des Kontrollverlusts/ „Nervenzusammenbruch“ (z.B. in Lateinamerika)
Kulturelle Leidensbegriffe (idoms of distress)
z. B. Eine geplatzte Gallenblase haben für Ausdruck v. Überarbeitung (Türkei)
Kulturelle Erklärungen wahrgenommener Ursachen (Erklärungsmodelle)
stellt Cultural-Formulation-Interview (CFI) zur Verfügung
Diagnostik: Was ist bei Fragebögen in Hinsicht auf Kultur zu beachten? Welche Fragebögen wurden im interkulturellen Setting erprobt?
Nebengütekriterium psychometrischer Verfahren: Fairness
sprachliche Äquivalenz bedeutet nicht gleich kulturelle Äquivalenz
im interkulturellen Setting erprobte Instrumente (Auswahl):
Depressive Störungen: Patient Health Questionnaire 9 (PHQ-9)
Angststörungen: HAM-A (Hamilton Angstskala)
PTBS: PDS (Posttraumatic Diagnostic Scale)
Somatisierung: Patient Health Questionnaire 15 – Somatisierung (PHQ-15)
Cultural Formulation Interview
kurzes, halbstrukturiertes Interview für systematische Einschätzungen kultureller Faktoren in der klinischen Begegnung
16 Fragen
1-3: kulturelle Definition des Problems (Fragen 1 bis 3)
4-10: kulturelle Wahrnehmung der Ursachen, des Kontextes und der Unterstützung
11-13: kulturelle Einflussfaktoren auf Selbstbewältigung und früheres Hilfesuchverhalten
14-16: kulturelle Einflussfaktoren auf aktuelles Hilfesuchverhalten
Fremdbeurteilungsversion vorliegend (Interview v. Angehörigen)
Diagnostik: verzerrende Einflüsse
Einflussfaktoren, auf PatientInnen-Seite
Scham, Tabu (z. B. Verschweigen diagnostisch relevanter Information aufgrund kultureller Normen)
Kulturspezifische Krankheitskonzepte od. Leidensbegriff (z.B. Ausdruck psychischer Beschwerden über Verbalisierung körperlicher Beschwerden)
Soziale Erwünschtheit (z.B. Verständnis der TherapeutInnen-Rolle als Autoritätsperson)
Sprachbarrieren (relevante diagnostische Informationen können nicht in verbalisiert werden)
Einflussfaktoren, auf TherapeutInnen-Seite
Halo-Effekt (Kontextinformation beeinflussen Diagnosestellung, z.B. Übersehen einer Depression bei einer freundlich lächelnden Patientin)
Rückschluss aufgrund eines singulären Phänomens (Pat. berichtet „verwunschen zu sein“ und wird direkt als psychotisch diagnostiziert)
Erwartungen
Kulturalisierung eines psychischen Problems od. Fehlinterpretation klinische relevanter Symptome als kulturspezifische Phänomene
Diskriminierungssensible Sprache (laut Robert-Koch-Institut)
1. Generalisierungen und Verallgemeinerungen vermeiden
▪ differenzierte Darstellung von Sachverhalten
▪ Vermeidung vereinheitlichender und pauschalisierender Aussagen für ganze Bevölkerungsgruppen
2. Diskriminierungssensibel formulieren
▪ Prüfung auf mögliche diskriminierende Assoziationen
3. Selbst- und Fremdbezeichnungen berücksichtigen
▪ Selbstbezeichnung des Gegenübers nutzen
▪ Prüfen, ob die Verwendung einer Bezeichnung im aktuellen Kontext überhaupt relevant ist
4. Begriffe unterliegen ständigem Wandel
▪ zuvor als unproblematisch geltende Begriffe können negative Bedeutung annehmen – gesellschaftliche Veränderungsprozesse verfolgen
5. Eigene Unsicherheiten offen kommunizieren
▪ sich trauen, Ihre Unsicherheiten offen anzusprechen, Fehler zu machen undKolleg:innen auf zuschreibende oder diskriminierende Ausdrucksweisen hinzuweisen. Ein wertschätzendes Feedback regt zur Reflexion an und stärkt eine diskriminierungssensible Gesprächskultur
Zentrale Begriffe: Migrant:innen, Geflüchtete, Menschen mit Migrationshintergrund
Migrant:innen:
völkerrechtlich nicht definierter Oberbegriff für zugewanderte und abgewanderte Personen, Nach BAMF Definition umfasst der Begriff Personen, die im Ausland geboren wurden (und eine ausländische Staats- bürgerschaft haben) und nach Deutschland ziehen.
Geflüchtete:
Menschen die aus ihrem Land geflohen sind; kein juristischer Begriff, kann auch Menschen einbeziehen, die aus Gründen wie Armut, Krieg, Gewalt oder Klimakatastrophen geflohen sind und keine Anerkennung nach der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten.
Menschen mit Migrationshintergrund:
für amtliche Statistik in Deutschland entwickeltes Konzept; schließt Menschen ein, wenn sie selbst oder mindestens eines ihrer Elternteile nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurden (1. oder 2. Generation)
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