Definition Einsamkeit (Loneliness)
aversives, schmerzhaftes Gefühl resultierend aus einer subjektiv wahrgenommenen sozialen Isolation (Diskrepanz zwischen gewünschten und tatsächlichen bestehenden sozialen Beziehungen)
soziale Beziehungen werden als quantitativ und/oder qualitativ defizitär erlebt, wobei die Qualität einen stärkeren Effekt auf das Einsamkeitserleben hat
indiziert eine Frustration des Bedürfnis nach Bindung
Abzugrenzende Konstrukte
SOZIALE ISOLATION (Social Isolation)
objektive Abwesenheit von Bezugspersonen
weder hinreichende noch notwendige Bedingung für Einsamkeit
Korrelation mit Einsamkeit schwach - mittel
ALLEINSEIN (Solitude)
objektiver Zustand, oft bewusst gewählt und positiv besetzt
Arten von Einsamkeit
Intime (emotionale) Einsamkeit: Fehlen sehr enger, intimer Beziehungen (z. B. Paarbeziehung, sehr enge Freundschaft)
Soziale (relationale) Einsamkeit: Mangel an Freundschaften und anderen sozialen Beziehungen
Kollektive Einsamkeit: fehlendes Zugehörigkeitsgefühl zu einer größeren Gemeinschaft
Wie viel Prozent der Menschen in Europa fühlen sich einsam?
kritische Lebensphasen für Einsamkeit
10-15 % der Menschen in europäischen Ländern fühlen sich häufig einsam
kritische Lebensphasen sind das Jugend- und junge Erwachsenalter und das hohe Erwachsenalter (>75J.)
-> junge Menschen vor allem seit der Coronapandemie
Folgen von Einsamkeit auf die Körperliche Gesundheit
Einsamkeitsbarometer 2024: 60.7% der Menschen mit erhöhter Einsamkeitsbelastung berichteten von einer unterdurchschnittlichen körperlichen Gesundheit
Morbidität: erhöhtes Risiko für verschiedene körperliche Erkrankungen
kardiovaskuläre Erkrankungen (Valtorta et al., 2016)
um 29% erhöhtes Risiko für koronare Herzerkrankungen
um 32% erhöhtes Risiko für Schlaganfälle
Typ-2-Diabetes (Lukaschek et al., 2017)
Dysregulation des Immunsystems (Jaremka et al., 2013) und Anfälligkeit für Atemwegserkrankungen (Cohen, 2021)
Mortalität: ca. um 30% erhöhte Sterblichkeit
Folgen von Einsamkeit auf die Psychische Gesundheit
Einsamkeitsbarometer 2024: 71.7% der Menschen mit erhöhter Einsamkeitsbelastung berichteten von einer unterdurchschnittlichen psychischen Gesundheit
wechselseitige Beziehung mit
Depressiven Störungen (Achterbergh et al., 2020)
Sozialer Angststörung (Maes et al., 2019)
Schlafstörungen (Hom et al., 2020)
Suizidalität (McClelland et al., 2020)
Einsamkeit sagt spätere Suizidideationen und –verhalten vorher, vermittelt über depressive Symptome
Ätiologie chronischer Einsamkeit:
Evolutionäre Theorie d. Einsamkeit (ETL)
Kognitives Modell der chronischen Einsamkei
Wann ist Einsamkeit adaptiv, wann maladaptiv?
Prädisponierende Faktoren für Einsamkeit
Studien zu childhood maltreatment
Aufrechterhaltende Faktoren
fehlende (befriedigende) soziale Beziehungen
verzerrte soziale Kognitionen & Hypervigilanz auf Zurückweisungssignale
Dysfunktionale Bewältigungsstrategien (Emotionsvermeidung)
e.g. sozialer Rückzug, sich verschließen, feindseliges Verhalten
Selbststigmatisierung
dysfunktionale Grundannahmen
mangelnde soziale Kompetenzen
mangelnde Selbstberuhigungsfähigkeiten
Evolutionäre Theorie d. Einsamkeit (ETL) auf neuronaler Ebene
• Soziales Craving & Craving nach Nahrung sind mit ähnlicher
Aktivierung im VTA (ventrales tegmentales Areal; mesolimbisches Belohnungssystem) assoziiert
• Soziale Zurückweisung aktiviert Hirnregionen (dACC), die auch bei physischen Schmerzen aktiviert sind
• die neuronale Response auf soziale Gefahrenreize ist bei einsamen Individuen (im Vgl. zu nicht- einsamen) schneller
Nehmen einsame Menschen die Welt anders wahr? (Studie)
Ergebnisse:
geringere Übereinstimmung der Hirnaktivität zwischen 2 einsamen Individuen als zwischen 2 nicht- einsamen Individuen
geringe Übereinstimmung zwischen einem einsamen und einem nicht-einsamen Individuum als zwischen 2 nicht-einsamen Individuen
je stärker die Einsamkeit, desto größer die Aktivitätsunterschiede zu anderen Individuen
Ergebnisse bleiben auch unter der Kontrolle von dyadischen Freundschaftsbeziehungen, objektiver sozialer Isolation und Ähnlichkeit in soziodemograf. Variablen
Diskussion:
Einsame Individuen verarbeiten Informationen auf eine eigene Art und Weise (idiosynkratisch). Sie unterscheiden sich in der Informationsverarbeitung sowohl von anderen einsamen Individuen (einsame Individuen sind damit keine homogene Gruppe) als auch von nicht-einsamen Individuen. Im Gegensatz dazu weisen nicht-einsame Individuen untereinander höhere Übereinstimmungen auf.
Effektrichtung?: Unklar bleibt, ob einsame Individuen einsam geworden sind, weil sie die Welt anders als ihre Mitmenschen wahrnehmen oder ob die Einsamkeit zu den Veränderungen in der Informationsverarbeitung geführt hat.
Hirnregionen, mit signifikanten Aktivitätsabweichungen zwischen einem einsamen Individuum und anderen
(von Studie)
Regionen des Default Mode Network (z. B. medial prefrontal cortex, posterior cingulate cortex, precuneus) -> Hinweis auf eine eigene Interpretation & Bedeutungszuschreibung
Regionen des Belohnungssystem (. Ncl. Accumbens) -> Hinweise auf Unterschiede darin, was als belohnend wahrgenommen wird
Regionen mit Aufmerksamkeitsfunktionen (z.B. lateral posterior parietal cortex) -> Hinweise auf Unterschiede im Aufmerksamkeitsfokus
Einsamkeit: „Ich bin anders“ auf neuronaler Ebene
Medialer präfrontaler Cortex (mPFC): Selbst-Repräsentation/ Persönlichkeit (Wer bin ich?)
je höher die Einsamkeit desto unterschiedlicher die mPFC- Aktivität zwischen dem Selbst und Anderen (Hinweise auf divergierende Selbst-Fremd-Repräsentation, disconnection)
je höher die Einsamkeit desto ähnlicher die mPFC-Aktivität zwischen unterschiedlichen sozialen Kreisen (nahestehende Personen, Bekannte, Personen d. öffentlichen Lebens) und innerhalb der Gruppe der Bekannten (Hinweise auf verschwommene Grenzen zwischen verschiedenen sozialen Kreisen)
Diagnostik von Einsamkeit: Klassifikationssysteme
chronische Einsamkeit ist keine Diagnose in Klassifikationssystemen psychischer Störungen (DSM-5, ICD-10, ICD-11)
allgemeingültiges Kriterium, wie lange und schwerwiegend Einsamkeitserleben sein muss, um als chronisch/überdauernd zu gelten, fehlt
Interventionsstudien: 50% d. Personen mit erhöhten Einsamkeitswerten erfüllen keine psychische Diagnose
keine Zusatzcodierung für überdauernde Einsamkeit in der ICD
—> Fazit: Betroffene von chronischem Einsamkeitserleben und ohne komorbide psychische Störungen werden in den bestehenden Klassifikationssystemen nicht abgebildet
Dimensionale Diagnostik von Einsamkeit und sozialer Isolation
Einsamkeit
UCLA Loneliness Scale (UCLA-LS; Russel, 1996)
Langform (20 Items), verschiedene Kurzformen
Instruktion: Wie oft haben Sie das Gefühl…?
5-Punkte-Likert-Skala: 0 = nie, 1 = selten, 2 = manchmal, 3 = oft, 4 = sehr oft
Beispiel-Items:
… ausgeschlossen zu sein? ...dass Ihnen Gesellschaft fehlt? …von anderen isoliert zu sein?
Soziale Isolation
Social Network Index (SNI; Chohen et al., 1997)
für ältere Menschen: Lubben Social Network Index (LSNS; Lubben, 2006)
Psychotherapeutische Interventionen: wie sollte die Behandlungsplanung bei Einsamkeit erfolgen?
In Anbetracht der Heterogenität und interindividuellen Varianz in den Entstehungs- und aufrechterhaltenden Faktoren chronischer Einsamkeit, sollte die Behandlungsplanung in jedem Fall individuell erfolgen.
3 wichtige Interventionen
Aufmerksamekeitslenkung
Aufbau sozialer Aktivitäten
soziale Kompetenzdefizite
Behandlung verzerrter sozial-kognitive Prozesse
Aufmerksamkeitslenkung
Aufmerksamkeitstraining zum flexiblen Lenken d. Aufmerksamkeit
Positiv-Tagebuch (Aufmerksamkeit auf positive soziale Signale)
Entwicklung alternativer Interpretationen z.B. über Situationsanalysen
Vertiefung aktuell vorhandener Kontakte
Auffrischung früherer sozialer Kontakte
Aufbau neuer sozialer Kontakte
Soziale Kompetenzdefizite
Training sozialer Kompetenzen, z.B. über Rollenspiele, Videofeedback
Gesprächsinitiierung (Small Talk)
Gespräche aufrechterhalten
Selbstöffnung & Authentizität
Äußerung von Bedürfnissen
weitere Interventionen
Last changed3 days ago