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Jack Goody/Ian Watt: Konsequenzen der Literalität

AG
by Adele G.

Einleitung

🧬 Sprache, Schrift & die Einteilung der Menschheitsgeschichte

Widmen sich der Frage wie der Grad an Literalität und die Unterscheidung von Forschungsbereichen zusammenhängen und ob eine Differenzierung zwischen liberalen und nicht-liberalen Gesellschaften noch sinnvoll ist?

🌍 Dreiteilung der Studien über den Menschen

  • Zoologie: ➡️ Mensch als Tier (biologische Evolution)

  • Anthropologie: ➡️ Mensch als sprechendes Tier

  • Soziologie: ➡️ Mensch als sprechendes & schreibendes Tier

„In zeitlicher Perspektive wird der Mensch qua Tier hauptsächlich vom Zoologen untersucht, als sprechendes Tier ist er Forschungsobjekt des Anthropologen und als sprechendes und schreibendes Tier Objekt des Soziologen.“

🗣️ Sprache als Schlüssel zur sozialen Organisation

  • Tiere: soziale Organisation instinktiv, genetisch überliefert

  • Menschen: soziale Organisation erlernt, sprachlich überliefert

„Was den Menschen befähigte, eine Form sozialer Organisation zu entwickeln […] ist die Sprache.“

✍️ Schrift als Beginn der „Geschichte“

  • Vorgeschichte: Sprache vorhanden, aber keine Schrift

  • Geschichte: Beginnt mit dem Aufkommen der Schrift

„Sobald die Schrift hinzukommt, beginnt die eigentliche Geschichte.“

📜 Grenzen zwischen Disziplinen

  • Prähistoriker → Historiker: ➡️ Wenn schriftliche Dokumente existieren

  • Anthropologe → Soziologe: ➡️ Mit alphabetischer Schrift & allgemeiner Literalität (Lesen & Schreiben in der Breite)

„In dem Maße, in dem eine signifikante Menge schriftlicher Dokumente vorhanden ist, überlässt der Prähistoriker dem Historiker das Feld.“

Offene Fragen

1️⃣ Ab wann gilt ein Schriftsystem als „Literalität“?

  • Ab wann sprechen wir von „Buchstaben“?

2️⃣ Wie groß muss der Anteil der Lesefähigen sein, damit eine Kultur „literal“ genannt wird?

„Welcher Anteil der Gesellschaft muß lesen und schreiben können, ehe die Kultur als ganze als literal bezeichnet werden kann?“

⚖️ Problematische Trennung

  • Grenze zwischen Anthropologie & Soziologie = unscharf

  • Nicht nur methodische, sondern auch inhaltliche Unterschiede

„Die Schwierigkeit ist nicht nur eine Frage der Grenzen der beiden Disziplinen, sondern auch eine der inneren Unterschiede im Gegenstand dieser Disziplinen.“

🌐 Neue Entwicklungen

  • Anthropologen untersuchen heute auch Industriegesellschaften

  • Alte Sicht:

    • Anthropologie = primitive Kulturen (primitives Denken)

    • Soziologie = zivilisierte Gesellschaften (rationales Denken)

  • Kritik: Diese Sicht ist ethnozentrisch und überholt

„Wir können nicht mehr der Ansicht anhängen, dass das Forschungsobjekt der Anthropologen der durch ‚primitives Denken‘ charakterisierte primitive Mensch ist.“

⚔️ Reaktion gegen Dichotomien

  • Starke Gegenbewegung: ➡️ Ablehnung der Unterscheidung zwischen nicht-literalen & literalen Gesellschaften

  • Autor widerspricht dieser Extremposition: ➡️ Plädiert für differenzierte Analyse

„Die Reaktion gegen solche ethnozentrischen Ansichten geht inzwischen jedoch so weit, dass der Unterscheidung zwischen nichtliteralen und literalen Gesellschaften jegliche Bedeutung abgesprochen wird.“

🔎 Plädoyer für neue Untersuchungen

  • Auch aus empirischer, relativistischer Perspektive können historische & analytische Unterschiede erkenntnisreich sein

  • Ziel: Neue Einsichten über gesellschaftliche Entwicklung

„Es erscheint daher der Mühe wert zu untersuchen, ob sich nicht […] wirkliche Erkenntnisse gewinnen lassen.“

Zentrale Punkte zusammengefasst

💡 Sprache als Basis

  • Ermöglicht komplexe soziale Organisation

💡 Schrift als Zäsur

  • Übergang von Vorgeschichte zu Geschichte

  • Neue Formen der sozialen Übermittlung & Organisation

💡 Disziplinäre Grenzen

  • Unscharf, fließend

  • Klassische Trennungen zunehmend fragwürdig

💡 Kritik an pauschaler Gleichmacherei

  • Unterschied zwischen literalen & nicht-literalen Kulturen sollte nicht ganz aufgegeben werden

🟢 Vergleich in einer Übersicht

Phase

Merkmale

Forschung

Mensch als Tier

Instinktiv, genetisch

Zoologie

Sprechender Mensch

Sprache, erlernt

Anthropologie

Schreibender Mensch

Schrift, Literalität

Soziologie

💬 Schlussgedanke

Auch wenn alte Grenzziehungen problematisch sind, bietet eine differenzierte Betrachtung von Schrift & Literalität wichtige Erkenntnisse über die Entwicklung menschlicher Gesellschaften.

Die kulturelle Tradition in nicht-literalen Gesellschaften - Teil 1

🗺️ Überlieferung des kulturellen Erbes in nicht-literalen Gesellschaften

  1. Teil des Textes beschäftigt sich mit den Weisen der Überlieferung des Erbes

📚 Drei Elemente der kulturellen Überlieferung

1️⃣ Materieller Fundus

  • Werkzeuge, natürliche Ressourcen

2️⃣ Handlungsmuster

  • Praktische Verhaltensweisen (z. B. Kochen, Ackerbau)

  • Oft durch Nachahmung, nicht nur Sprache

3️⃣ Sprachlich vermittelte Elemente

  • Weltanschauung, Werte, Vorstellungen von Raum & Zeit

  • Wichtigstes Element

„Die bedeutsamsten Elemente der menschlichen Kultur sind jedoch zweifellos sprachlich vermittelt.“

💬 Sprache als Träger der sozialen Erfahrung

  • Sprache transportiert das intellektuelle Kapital einer Gesellschaft (Durkheim)

  • Direkte, face-to-face Kommunikation

  • Keine schriftlichen Aufzeichnungen, sondern Gedächtnis

„Die relative Kontinuität dieser Verstehenskategorien […] wird in erster Linie durch die Sprache sichergestellt.“

🗣️ Natur der mündlichen Kommunikation

  • Direkte Beziehung zwischen Symbol und Referent

  • Keine Wörterbuchdefinitionen oder historische Schichtungen von Bedeutungen

  • weil die Bedeutung in konkreten Situationen festgelegt wird

  • = Prozess semantischer Ratifizierung

„Die Bedeutung eines Wortes bestimmt sich […] in einer Folge konkreter Situationen, mit stimmlichen Veränderungen und körperlichen Gesten.“

📄 Kulturelle „semantische Ratifizierung“

  • Bedeutung entsteht kumulativ und situationsabhängig

  • Folge: Menschen (aus nichtßliteralen Gesellschaften) sind stärker sozialisiert, weil sie Bedeutung direkt erleben

  • Illustration möglich wenn Vokabular dieser Gesellschaften betrachtet wird

💡 Beispiel: Lesu & Trobriander

  • Lesu (Pazifik): Viele Wörter für Schweine → hohe Bedeutung in der Gesellschaft, deswegen stärkere sprachliche Ausdifferenzierung

„Die Bewohner der pazifischen Insel Lesu haben ungefähr ein Dutzend Wörter für Schweine.“

  • Trobriander: Benennung der Natur nur, wenn nützlich

    • kleineres Vokabular, weil wenigere Dinge benannt werden

🗺️ Verknüpfung von Sprache & sozialer Organisation

  • Sprache reflektiert dominante Interessen & Praktiken

  • Beispiel Lodagaa (Nordghana):

    • Tage werden nach Markttagen gezählt

    • Wort für „Tag“ und „Markt“ ist identisch

„Der ‚wöchentliche‘ Zyklus ist ein Sechstagezyklus der wichtigsten Märkte.“

🧠 Soziales Gedächtnis & Homöostase

  • soziale Funktion des kulturellen Gedächtnisses

  • Erinnerung & Vergessen = homöostatische Funktion

  • Nur sozial Bedeutendes bleibt erhalten

  • Sprache als Filter: wichtig bleibt, Rest wird vergessen

„Was von sozialer Bedeutung bleibt, wird im Gedächtnis gespeichert, während das übrige […] vergessen wird.“

🧩 Mechanismen zur Stabilisierung des Gedächtnisses

  • doch haben auch nicht-liberale Gesellschaften mnemotische Techniken um den Prozess des Vergessens und der Bedeutungsverschiebung etwas entgegenzuwirken:

  • Formelhafte Redeweisen

  • Rituale & musikalische Begleitung (z. B. Trommeln)

  • Professionelle Erinnerer (z. B. Barden)

„Formalisierten Sprechmuster, Vortrag unter rituellen Bedingungen, Trommeln […] schützen zumindest einen Teil des Gedächtnisinhaltes.“

📖 Beispiel: Homerische Epen

  • Wahrscheinlich 750–650 v. Chr. niedergeschrieben

  • Blicken auf viel ältere Zeit zurück → zeigen Stabilität mündlicher Tradition

„Ihre Substanz ist unverkennbar alt.“

Zentrale Punkte zusammengefasst

💡 Sprache als Hauptträger

  • Kultur wird vor allem sprachlich, mündlich vermittelt

  • Direkter sozialer Kontakt

💡 Keine Schrift = Gedächtnisabhängigkeit

  • Kein Archiv, keine Texte

  • Gedächtnis = zentrales Medium

💡 Homöostase

  • Gedächtnis „sortiert“: Wichtig bleibt, Unwichtiges wird vergessen

💡 Praktische Anpassung

  • Sprache eng mit Lebensweise und sozialen Strukturen verknüpft

💡 Stabilisierende Mittel

  • Rituale, Wiederholung, Musiker, feste Formeln

🟢 Vergleich: Literale vs. nicht-literale Gesellschaften

Aspekt

Nicht-literal

Literal

Überlieferung

Mündlich, Gedächtnis

Schriftlich, dokumentiert

Bedeutung

Situativ, konkret

Abstrakt, historisch

Stabilisierung

Formeln, Rituale

Texte, Archive

Gedächtnis

Zentrale Rolle

Unterstützende Rolle

💬 Schlussgedanke

In nicht-literalen Kulturen funktioniert Sprache wie ein sozialer Speicher: Sie sichert kulturelles Wissen, aber nur, was aktuell relevant ist, bleibt erhalten.

Die kulturelle Tradition in nicht-literalen Gesellschaften - Teil 2

🌱 Homöostatische Überlieferung in oralen Gesellschaften

🔎 Begriff „homöostatisch“

  • Orale Gesellschaften bewahren Traditionen nicht „fix“, sondern anpassungsfähig.

  • Anpassung dient der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung in der Gegenwart.

„Die Überlieferung der kulturellen Tradition […] als homöostatisch zu bezeichnen.“

👨‍👩‍👦‍👦 Beispiel: Genealogien

📜 Tiv in Nigeria

  • Genealogien reichen über ca. 12 Generationen zurück.

  • Funktion ist keine reinen Erinnerungsleistungen, sondern soziale Werkzeuge: Dienen zur Regelung sozialer Beziehungen (z. B. Rechte, Pflichten).

„Sie fungierten als Stützen für Systeme sozialer Beziehungen.“

📖 Britische Verwaltung

  • Schrieb Genealogien auf, um sie als „feste Tatsachen“ zu verwenden.

  • Konflikte: Tiv behaupteten, die Listen seien falsch, aber Briten glaubten ihre liberalen Vorgänger*innen

⚖️ Homöostatische Anpassung

  • Genealogien werden laufend verändert, um aktuelle Strukturen zu stützen.

  • Veränderungen durch:

    1. Generationenwechsel („strukturelle Amnesie“)

    2. Organisatorische Umstrukturierungen

    3. Strukturelle soziale Veränderungen

„Jeder dieser drei Prozesse […] konnte Veränderungen bewirken.“

🗺️ Beispiel: Gonja in Nordghana

  • Briten wollten Erzählung über die Entstehung niederschreiben

  • Erwähnten ursprünglich 7 Bezirke (entsprechend 7 Söhnen des Gründers Ndewura Japkau)

  • Zwei Bezirke verschwinden → spätere neue Aufzeichnungen erwähnten nur noch 5 Söhne

  • Anpassung der Gründungsmythen an aktuelle politische Gegebenheiten.

🔥 Funktion von Mythen & Genealogien

  • Nicht primär historische Tatsachenberichte

  • Funktionieren vielmehr als „Verfassungen“ gegenwärtiger sozialer Institutionen.

  • Automatische Anpassung durch mündliche Überlieferung.

„Sie fungieren in erster Linie als ‚Verfassungen‘ gegenwärtiger sozialer Institutionen.“

🧠 Mythen & heiliges Wissen

  • Verändern sich wie Genealogien.

  • Gottheiten verschwinden, wenn sie „nutzlos“ werden.

  • Mythen werden vergessen, verändert oder umgedeutet.

„Wenn bestimmte Gottheiten […] ihren Zweck erfüllt haben, verschwinden sie gewöhnlich aus dem Pantheon.“

Vergangenheit aus Sicht der Gegenwart

  • Keine „objektive“ Unterscheidung zwischen damals und heute.

  • Erinnerung an die Vergangenheit ist immer gegenwartsbezogen.

  • Beispiel Eskimos bei Franz Boas: Welt ist „immer so gewesen, wie sie heute ist.“

💬 Kein Widerspruch möglich

  • Keine schriftlichen Aufzeichnungen → keine Möglichkeit, aktuelle Erzählungen zu überprüfen.

  • auch keine Möglichkeit Bedeutungswandel von Worten zu erkennen oder schwindendes Vokabular

  • Mythos & Geschichte verschmelzen.

„So erkennen die Tiv keinerlei Widerspruch zwischen dem, was sie heute sagen, und dem, was sie vor fünfzig Jahren gesagt haben.“

Zentrale Punkte zusammengefasst

💡 Homöostase als Prinzip

  • Tradition wird aktiv angepasst, nicht unverändert konserviert.

💡 Funktional, nicht historisch

  • Genealogien & Mythen sichern aktuelle soziale Ordnung, nicht historische Wahrheit.

💡 Gedächtnis statt Archive

  • Keine festen Aufzeichnungen → Vergangenheit wird flexibel „aktualisiert“.

💡 Gegenwartsfokus

  • Alles wird so erzählt, wie es zur aktuellen Situation passt.

🟢 Vergleich: Orale vs. literale Gesellschaften

Aspekt

Orale Gesellschaft

Literale Gesellschaft

Überlieferung

Flexibel, angepasst

Fixiert, überprüfbar

Vergangenheit

Gegenwartsbezogen

Chronologisch, getrennt

Kontrolle

Mündlich, Gedächtnis

Schriftlich, Dokumente

Wahrheitsbegriff

Funktional, sozial

Historisch, objektiv

💬 Schlussgedanke

In oralen Gesellschaften lebt die Vergangenheit nur als nützliches Werkzeug für die Gegenwart, nicht als fixe Chronik. Mythen und Genealogien werden stetig umgeschrieben, um soziale Stabilität zu sichern.

Author

Adele G.

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