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Klassifizieren?

AG
by Adele G.

Was beudeutet Klassifizieren in der Literaturwissenschaft?

1. Grundidee: Texte einer Gattung zuordnen 📚

  • Einen Text einer Gattung zuordnen bedeutet, ihn einer Textgruppe zuzuordnen, die bestimmte Merkmale teilt.

  • Gattungsbegriff: Wenn die Textgruppe einen Namen hat, nennt man diesen Namen Gattungsbegriff.

  • Voraussetzung: Man muss die Gattung definieren können.

2. Klassische Definition: Genus-differentia đŸ§©

  • Genus proximum → Oberbegriff

  • Differentia specifica → Merkmal, das die Art von anderen Arten des Oberbegriffs unterscheidet

Beispiel:

  1. Ich sitze auf einem Schreibtischstuhl → gehört zur Gattung der StĂŒhle, nicht zu Hockern oder Sesseln.

  2. SchreibtischstĂŒhle gehören zur Gattung StĂŒhle, nicht zu anderen Sitzmöbeln.

  • Beziehung: Das Wort „Gattung“ wird relational verwendet → immer das nĂ€chsthöhere Element.

💡 Problem in der Literatur: Manchmal werden die Hauptgattungen Epik, Lyrik, Dramatik als Gattungen bezeichnet, manchmal Unterarten wie Cento.

3. Klassifikation als System đŸ›ïž

  • Genus-differentia-Definition ist klassifikatorisch:

    • Sie setzt eine systematische Ordnung voraus.

    • Beispiel Schreibtischstuhl: Schritt fĂŒr Schritt werden Merkmale hinzugefĂŒgt, bis die genaue Definition entsteht:

      • materiell, von Menschen gemacht, Sitzgelegenheit, RĂŒckenlehne, speziell fĂŒr den Schreibtisch.

4. Enzensberger’s Ziel fĂŒr die Literatur 📖

  • Enzensberger möchte eine sinnvolle, systematische Zuordnung aller literarischen Erscheinungen.

  • Herausforderung:

    • Menschliche Werke sind zu vielfĂ€ltig, um sie so prĂ€zise zu klassifizieren wie GegenstĂ€nde der Natur.

  • Inspiration aus der Biologie:

    • Klassifikation nach Carl von LinnĂ© (1707–1778).

    • Maßstab: Organismen lassen sich in hierarchische Ebenen ordnen (Art → Gattung → Familie 
).

5. Beispiel: Zoologische Einordnung des Menschen 🐒

  • Homo sapiens → Homo → Homini → Menschenaffen → Menschenartige → 
 → Lebewesen

  • Problematik: So eine fein abgestufte Klassifikation ist fĂŒr literarische Texte weder möglich noch wĂŒnschenswert.

6. Klassifikation in der Literatur vs. Biologie ✍

  • Klassifikation literarischer Texte unterscheidet sich grundlegend von der Tier- oder Pflanzenklassifikation:

    • Texte sind flexibler und variabler.

    • Gattungen können ĂŒberlappen oder neue Formen entstehen.

  • Literaturwissenschaftler mĂŒssen daher oft auf Metaebene arbeiten, um Texte sinnvoll zu ordnen.

7. Metaebene der Klassifikation 🧐

  • Werner Strube beschreibt:

    • Literaturwissenschaftliche Klassifikation funktioniert auf einer abstrakten Ebene.

    • Klassifikationen sind immer unvollstĂ€ndig, da Texte nicht streng naturwissenschaftlich geordnet werden können.

  • Ziel ist es, Prinzipien und Muster zu erkennen, statt strikte Hierarchien aufzuerlegen.

8. Fazit 🌟

  • Gattungen sind Hilfsmittel, um Texte zu ordnen, aber sie sind nicht absolut wie biologische Arten.

  • Klassifikationen der Literatur:

    • sind systematisch, aber nie perfekt

    • dienen der Orientierung

    • mĂŒssen die FlexibilitĂ€t und Vielfalt der Literatur berĂŒcksichtigen


Strube

1. Beispiel zur Illustration: Novellen und Novellenzyklus 📚

  • Traditionelle epische Formen: Roman, Novelle, Novellenzyklus (+ viele Untergattungen).

  • Novellenzyklus: Mehrere Novellen, verbunden durch eine Rahmenhandlung.

    • Beispiel: Decamerone von Boccaccio.

  • Novellenroman (Hermann Broch, Die Schuldlosen. Roman in elf ErzĂ€hlungen):

    • Besteht wesentlich aus Novellen

    • Die Novellen sind so verbunden, dass eine zusammenhĂ€ngende Romanhandlung entsteht.

  • Ziel: PrĂŒfen, ob der Begriff „Novellenroman“ sinnvoll in bestehende Gattungs-Klassifikationen passt.

2. Literaturwissenschaftliche Klassifikation nach Strube đŸ§©

  • Literaturwissenschaftler klassifizieren Werke nach Ähnlichkeit wesentlicher Merkmale → Bildung von Sammelbegriffen.

  • „Objektiv angemessen“:

    • Ein Sammelbegriff erscheint sinnvoll fĂŒr eine Gruppe von Texten.

    • Verschiedene Wissenschaftler können unterschiedliche „objektiv angemessene“ Begriffe finden.

Beispiel:

  • Novellenroman vs. Novellenzyklus → literaturmorphologische Perspektive (Gestaltung/Struktur)

  • Andere Texte können ebenfalls als Novellenroman gelten (z. B. Döblins Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende).

💡 Wichtig: Was in einer Perspektive passt, kann in einer anderen (z. B. literatursoziologisch) nicht exklusiv als eigene Gattung gelten.

3. Beliebige Klassifikationen sind möglich ⚖

  • Man könnte Texte auch nach Wortzahl, Anfangsbuchstabe, SatzlĂ€nge oder Figurenanzahl einteilen.

  • Solche Kriterien sind nicht „objektiv angemessen“, sondern eher willkĂŒrlich.

4. Definition eines Gattungsbegriffs nach Strube ✍

  • Literaturwissenschaftler geben Gruppennamen und definieren klassifikatorische Begriffe:

    • Definition durch notwendige und hinreichende Bedingungen

    • Begriffe mĂŒssen eindeutig und prĂ€zise sein.

Novellenroman → drei Merkmale:

  1. Mehrere Novellen (GrĂ¶ĂŸe der Menge unscharf)

  2. EingefĂŒgt in einen Rahmen

  3. Rahmen bildet eine zusammenhÀngende Romanhandlung

5. Intension vs. Extension 🔍

  • Die Definition ist intensional: beschreibt die wesentlichen Merkmale.

  • Sie ist nicht extensional: man kann nicht genau sagen, welche Werke genau dazugehören.

    • Beispiel: Wie viele Novellen ergeben „eine grĂ¶ĂŸere Menge“?

  • Literaturklassifikationen sind systematisch unscharf an den RĂ€ndern.

  • Sie sind keine echten „Klassenbegriffe“ wie in der Biologie nach LinnĂ©.

6. Zweite Unscharfe begrifflicher Art 🌀

  • Unklarheit ĂŒber den Rahmen:

    • Ist gemeint: RahmenerzĂ€hlung oder nur lose VerknĂŒpfung?

    • Die Definition bleibt an dieser Stelle offen.

Fazit 🌟

  • Klassifikationen in der Literatur sind:

    • notwendig zur Orientierung,

    • prĂ€zise in der Definition,

    • aber unscharf in der konkreten Anwendung.

  • Verschiedene Perspektiven fĂŒhren zu unterschiedlichen „objektiv angemessenen“ Einteilungen.

  • Literatur lĂ€sst sich nicht so streng wie biologische Arten klassifizieren.

1. HomogenitĂ€t der Begriffe fehlt ⚠

  • Eine gute Klassifikation erfordert, dass die Begriffe gleichartig definiert sind → homogen.

  • In der Literatur scheitert das:

    • Beispiel: Epik/Lyrik/Dramatik → scheinbar homogen, aber Genette & Petersen zeigen, dass auch hier Unterschiede bestehen.

    • Untergattungen des Romans (Schelmenroman, Dialogroman, Briefroman, Gesellschaftsroman) → verschiedene Kriterien, also heterogen.

  • Strube nennt das „historisch zufĂ€llige Begriffsbildung“ → Wildwuchs in der Gattungsbezeichnung.

💡 Konsequenz: Klassifikationen können nicht auf perfekte HomogenitĂ€t bauen.

2. Problem der freien Klassifikationslizenz 📝

  • Strube: Literaturwissenschaftler könnten Begriffe neu ordnen, klare Kriterien schaffen → „regelgerechte Klassifikation“.

  • Kritik:

    • Wissenschaftler entfernt sich vom ĂŒblichen Sprachgebrauch

    • Aufgabe einer flĂ€chendeckenden Neuordnung praktisch unmöglich

    • Der Klassifikator wird zum nie endenden Diskurspolizisten.

3. Disjunktheit (keine Überschneidungen) ❌

  • Theorie: Ein Text darf nur einer Gattung zugeordnet werden.

    • Beispiel: Roman vs. Novellenkranz → Intensio (Definition) → Disjunkt.

    • Extensio (konkrete FĂ€lle) → unscharfe ÜbergĂ€nge.

  • Ergebnis: Neue Untergattungen wie der Novellenroman entstehen, um Unklarheiten zu lösen.

  • Praxis: Literaturwissenschaftler arbeitet oft nur mit eindeutigen FĂ€llen → Prinzip der Abstraktion/Idealisierung.

4. KomplementaritĂ€t (VollstĂ€ndigkeit) fehlt 🔄

  • Klassifikation soll alle Werke eines Bereiches erfassen → komplementĂ€re Begriffe.

  • Problem:

    • Neue Werke passen oft nicht klar in bestehende Unterteilungen

    • Ausweichlösung: „Sonstiges“ → unbefriedigend fĂŒr den Klassifikator

    • Klassifikation bleibt jeweils nur bis auf Weiteres komplementĂ€r.

5. PyramidalitĂ€t und Hierarchieprobleme đŸ›ïž

  • Klassifikation erfolgt auf verschiedenen Hierarchieebenen.

  • Beispiel Novellenroman:

    • Name suggeriert Unterordnung unter Roman

    • Strube: Novellenroman ist gleichrangig neben Roman, Novelle, Novellenkranz

    • BegrĂŒndung: Merkmale des Novellenzyklus + Roman → keine klare Unterordnung möglich

  • Vergleich: Briefroman ist eindeutig Untergattung des Romans → nicht dasselbe Problem.

  • Problem: Klassifikationen mĂŒssen alltĂ€gliche Bedeutungen von Gattungsnamen neu interpretieren → Konflikte mit Sprachgebrauch & Untertiteln von BĂŒchern.

6. Fazit: Klassifikation ist problematisch ⚡

  • Klassifizieren literarischer Werke ist schwer, widersprĂŒchlich und unscharf.

  • Beste Strategie: Klassifikationen als interessante Versuche verstehen, nicht als abschließende Wahrheit.

  • Klassifikationen sind relevant, weil sie scheitern und so auf die KomplexitĂ€t literarischer Gattungen hinweisen.


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Adele G.

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