TIC: ICD-10-Kategorisierung
F95.0 Vorübergehende Ticstörung: < 1 Jahr, meist motorisch, vollständiges Verschwinden.
F95.1 Chronische Ticstörung: > 1 Jahr, motorisch oder vokal.
F95.2 Tourette-Syndrom: > 1 Jahr, motorische und vokale Tics.
F95.8/9 Andere/nicht näher bezeichnete Ticstörungen (Beginn < 18 J., Dauer > 4 Wochen, keine klare Zuordnung).
Symptomatik & Zeitkriterium
Plötzliche, unwillkürliche, stereotype Bewegungen oder Lautäußerungen.
Motorisch: einfach (Blinzeln, Schulterzucken) oder komplex (Hüpfen, Berühren).
Vokal: einfach (Räuspern, Husten) oder komplex (Wörter, Sätze, Koprolalie).
Sensorische Vorgefühle (Jucken, Spannung, Druck).
Kurzzeitiges Unterdrücken möglich → führt zu innerer Anspannung.
Verstärkung bei Stress, Nachlassen bei Ablenkung/Schlaf.
Zeitkriterium:
< 1 Jahr = vorübergehend
> 1 Jahr = chronisch/Tourette.
Differentialdiagnosen
Medikamentenwirkungen: Methylphenidat, Spätdyskinesien (Neuroleptika)
Organisch/neurologisch: Tumor, Epilepsie
Psychisch: Autismus, Zwangsstörung, dissoziative Störungen, stereotype Bewegungsstörung
Zwänge werden fast immer schamhaft verborgen und haben kein sensomotorisches Vorgefühl
🔑 Merksatz:
Tics = mit körperlichem Vorgefühl (Spannung vorher, Erleichterung danach).
Zwänge = ohne Vorgefühl, eher von Gedanken oder Befürchtungen getrieben, dazu oft mit Scham verborgen.
Komorbiditäten
ADHS (ca. 50%)
Zwangsstörung (30–60%, entwickelt sich oft Jahre später)
Emotionale Störungen (Depression, Angst)
Schlafstörungen, Lernschwierigkeiten, leichte neurologische Auffälligkeiten
Autismus-Spektrum-Störung, Stottern, Soziophobie
Diagnostik
Exploration: Kind, Eltern, Lehrer; Symptomverlauf, Belastung.
Instrumente: YGTSS (Yale Global Tic Severity Scale), YTSSL, TSGS, DISYPS-III (FBB/SBB/DCL-TIC).
Verhaltensbeobachtung: Exploration, Tests, Spielsituationen, Fremdbeobachtung durch Eltern.
Körperliche/neurologische Untersuchung: Ausschluss organischer Ursachen (EEG)
—> Fremdanamnese: Art der Tics (motorisch,vokal), Intensität, Häufigkeit, Verlauf, Unterdrücklbarkeit, psychosoziale Belastungssituation
Strukturierte Verhaltensbeobachtung (über mehrere Tage)
YALE - TOURETTE - SYMPTOMLISTE
Medikamentenanamnese:
Methylphenidat kann Tics verschlimmern oder verbessern
Ätiologie
Genetik: familiäre Häufung, 30–50%, Überschneidung mit Zwangsstörungen.
Neurobiologie: Dysfunktion in Basalganglien, Thalamus, Motorkortex; dopaminerge Überfunktion, serotonerge Unterfunktion.
Psychosoziale Faktoren: Kritik, Schuldzuweisungen, Stress (Schule/Familie), Mobbing → Symptomverstärkung.
Epidemiologie & Verlauf
im Alter von 6-8 Jahren
ca. 10% der Kinder entwickeln zumindest 1x einen vorübergehenden TIC
Prävalenz: Grundschulkinder 10–15% (vorübergehend), Jugendliche 4–18%, Tourette ca. 1%.
Geschlecht: Jungen 3:1 Mädchen.
Oft Besserung nach Pubertät, 50% benötigen im Erwachsenenalter weiter Therapie
Therapie & Behandlungsplanung
Psychoedukation: Aufklärung Eltern/Kind, Entlastung, Info-Material, Selbsthilfegruppen.
VT-Methoden:
Habit-Reversal-Training (Selbstwahrnehmung, Entspannung, gegenregulierende Reaktionen, “Wenn-dann-System“: Verknüpfung zwischen Verhalten und Konsequenz
Massierte Übungen („negative practice“).
Stressbewältigung, Ressourcenaktivierung, kognitive Interventionen.
Pharmakotherapie (bei hohem Leidensdruck): Dopaminantagonisten (Haloperidol, Pimozid, Risperidon, Aripiprazol, Tiaprid, Sulpirid).
Nachsorge: Rückfallprophylaxe, Boostersitzungen, Selbsthilfe, Thematisieren von Lebensperspektiven (Freundschaft, Beruf, Führerschein).
Kurze Zusammenfassung
ICD-10: F95.0–F95.2 (zeitabhängig, motorisch/vokal).
Kernsymptome: plötzliche, unwillkürliche Bewegungen/Laute, oft sensorische Vorgefühle, Verstärkung bei Stress.
Komorbiditäten: v.a. ADHS & Zwangsstörung.
DD: Medikamente, neurologische Erkrankungen, Autismus, funktionelle Tics.
Diagnostik: Exploration, Fremdbeobachtung, Skalen (YGTSS).
Ätiologie: Genetik, Basalganglien/Dopamin, psychosoziale Faktoren.
Epidemiologie: häufig bei Kindern, Jungen > Mädchen, oft Besserung nach Pubertät.
Therapie: Psychoedukation, Verhaltenstherapie (HRT), ggf. Pharmaka, Nachsorge.
BASISC Zusammenfassung
• Tic-Störungen zeichnen sich durch eine motorische und/oder vokale Symptomatik aus. Der Patient kann diese zwar für kurze Zeit unterdrücken, dann entlädt sie sich aber durch einen „inneren Drang"
• Komorbide Erkrankungen (v.a. ADHS und Zwangsstörungen) sind häufig.
• Therapeutisch entscheidend ist eine früh einsetzende ausführliche Beratung des gesamten Umfelds („Kind kann nichts dafür"). Therapiemöglichkeiten sind intensive Beratung, Entspannungsverfahren, Selbstbeobachtung, massierte Übungen, Gegenregulationstechniken und evtl. eine medikamentöse Therapie (Tiaprid, Aripiprazol, Risperidon).
• Oft persistiert die Symptomatik über Jahre und geht dann ab etwa dem 13.
Lebensjahr zurück. Das Tourette-Syndrom neigt zur Persistenz ins Erwachsenen-alter.
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