(Seite 5) Wie viele Kinder in Deutschland sind von elterlicher Sucht betroffen?
Schätzungen zeigen ein massives Ausmaß:
Ältere Daten (Klein 2005): 2,65 Mio. Kinder alkoholabhängiger Eltern, ca. 40 000 Kinder drogenkonsumierender Eltern
Epidemiologischer Suchtsurvey 2012: 9,2 Mio. Kinder mit substanzabhängigem Elternteil, 5,9 Mio. leben im selben Haushalt
RKI-Studie GEDA 2012: 6,6 Mio. Kinder bei Eltern mit riskantem Alkoholkonsum, 4,2 Mio. bei regelmäßigem Rauschtrinken
(Seite 6) Welche Entwicklungsrisiken haben Kinder abhängigkeitserkrankter Eltern besonders häufig?
Sie zeigen eine breite Palette psychischer und sozialer Belastungen:
Emotionale Probleme: Depressivität, Angst- und Bindungsstörungen
Substanzprobleme: früher Einstieg, Rauschtrinken, schnellere Chronifizierung
Soziale und Beziehungsprobleme: frühe sexuelle Beziehungen, spätere Bindungsschwierigkeiten
Leistungsdefizite: schulisch und beruflich
Verhaltensauffälligkeiten: Aggression, Regelverstöße
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Diese Kinder sind mehrfach gefährdet, da emotionale, soziale und biologische Faktoren ineinandergreifen.
(Seite 9) Warum kommt es zu Schnittstellenproblemen zwischen Suchthilfe und Jugendhilfe?
Weil beide Systeme unterschiedliche Logiken und Zuständigkeiten haben:
Suchthilfe: Fokus auf Erwachsene, Therapie, Konsumthemen
Jugendhilfe: Fokus auf Kinder, Schutzauftrag nach KJSG, breites Hilfespektrum
Problem: unterschiedliche Finanzierungslogiken und Expertise-Schwerpunkte → Kooperation oft schwierig
(Seite 11) Welche Rolle spielt Genetik bei der Weitergabe elterlicher Suchterkrankungen?
Die Erblichkeit ist deutlich nachweisbar – Zwillingsstudien zeigen:
Alkoholsucht: 24–58 % Erblichkeitsanteil
Cannabiskonsum: ca. 45 %
Beteiligte Gene: • CRHR1 (Stressregulation) • SLC6A4 (Serotonintransporter)
Genetische Vulnerabilität wird häufig erst durch Umweltfaktoren wie Stress oder elterliche Dysregulation aktiviert.
(Seite 12) Wie beeinflusst elterliche Sucht die Bindungsentwicklung von Kindern?
Erhöhtes Risiko für unsichere oder desorganisierte Bindung:
Mütter mit Sucht: geringere Feinfühligkeit, ambivalentes Verhalten, weniger positive Emotionen
Kinder alkoholabhängiger Mütter: häufig unsicher gebunden
Auch bei alkoholabhängigen Vätern: Bindungsunsicherheit zur nicht abhängigen Mutter
Substituierte Mütter: häufiger desorganisiertes Bindungsmuster bei den Kindern
Nicht alle Kinder bewerten ihre Kindheit negativ – es besteht kein Automatismus der Schädigung.
(Seite 14) Wie stark steigt das Risiko für Misshandlung und Vernachlässigung bei elterlicher Sucht?
Ergebnisse einer schwedischen Studie (Jernbro et al., 2022):
Physische Misshandlung: 3-fach erhöhtes Risiko
Vernachlässigung: 6-fach erhöhtes Risiko
Zusammenhang über ACE-Konzept (Adverse Childhood Events)
(Seite 16) Wie verändert Sucht das elterliche Erleben von Elternschaft?
Sucht macht Elternschaft stressreicher und weniger lohnend:
Suchtkranke Mütter zeigen verminderte Aktivität im Belohnungssystem, wenn sie ihr eigenes Kind sehen
Bindungssignale des Kindes lösen Stress statt Freude aus → Geringere Motivation zu feinfühligem Verhalten
(Seite 17) Wie wirkt sich „Early Life Stress“ (ELS) auf das kindliche Stresssystem aus?
ELS führt zu epigenetischen Veränderungen in zentralen Stressregionen:
Hypothalamus, Hypophyse, Amygdala
Gestörte Regulation von Cortisol und Noradrenalin
Beeinträchtigte Selbstberuhigung (Serotonin) und soziale Beruhigung (Oxytocin)
(Seite 18) Auf welchen Wegen kann Early Life Stress den Substanzkonsum in der Jugend fördern?
Zwei zentrale psychopathologische Pfade:
Internalisierend: Depression, Angst, PTBS → Konsum als Coping/Belohnung
Externalisierend: Impulsivität, Aggression, Hyperaktivität → Konsum durch Gruppendruck, Risikoverhalten
→ Früher „Age of Onset“: Jugendliche beginnen eher und stärker zu konsumieren.
(Seite 19) Welche neurobiologischen Folgen hat früher Substanzkonsum?
Er führt zu dauerhaften neuronalen Veränderungen:
Mesocorticolimbisches System: gestörtes Belohnungsempfinden
Präfrontaler Cortex: geschwächte Impulskontrolle & Exekutivfunktionen
HPA-Achse: erhöhte Stresssensitivität
(Seite 20) Wie kann sich Sucht über Generationen hinweg fortsetzen?
Über einen Teufelskreis aus Stress, Sucht und Erziehungsstil:
Emotionale Probleme → erhöhen Suchtanfälligkeit
Suchtverhalten → führt zu harter, wenig feinfühliger Erziehung
→ Diese erzeugt erneut emotionale Probleme in der nächsten Generation
Beleg: Neppl et al. (2020) – Nachweis über drei Generationen.
(Seite 21) Was fasst Bröning als Kernaussage zur Transmission elterlicher Sucht zusammen?
Entwicklungsrisiken entstehen in jeder Generation neu durch:
(Epi-)genetische Faktoren
Familiäres Umfeld
→ Beide wirken auf denselben neurobiologischen Mechanismus: Stressanfälligkeit, Regulationsprobleme und verändertes Belohnungssystem.
(Seite 22) Welche Schutzfaktoren können die Risiken elterlicher Sucht ausgleichen?
Schutzfaktoren wirken auf mehreren Ebenen:
Personal: soziale & emotionale Kompetenzen, Selbstwirksamkeit
Sozial: stabile Freundschaften, zugewandte Erwachsene als Vorbilder
Akademisch: Erfolgserlebnisse, Anerkennung, fördernde Lehrkräfte
Familiär: Strukturen, Rituale, autoritativer Erziehungsstil
Suchtbezogen: niedrige Intensität des elterlichen Konsums
Je mehr Schutzfaktoren vorhanden sind, desto geringer das Risiko einer negativen Entwicklung.
(Seite 24) Welche Elemente helfen Kindern aus suchtbelasteten Familien besonders?
Zentrale Ansatzpunkte laut Experteninterviews:
Struktur & Stabilität im Alltag
Zuwendung und Verlässlichkeit durch Bezugspersonen
Förderung von Stressbewältigung, Emotionsregulation und Selbstwirksamkeit
Zitat:
„Kindern hilft: Struktur, Zuwendung, Arbeit an Stressbewältigung, Emotionsregulation, Selbstwirksamkeit.“
(Seite 25) Was ist das Ziel des Präventionsprogramms „Trampolin“?
Ein präventives Gruppenprogramm für Kinder suchtkranker Eltern:
Fokus: Ressourcenaufbau, Selbstwert und Umgang mit Belastung
Evidenzbasiert: randomisierte kontrollierte Studie zeigte signifikante Effekte (Bröning et al., 2019)
(Seite 26) Wie kann Resilienzförderung im Kita-Alltag aussehen?
Nach Rönnau-Böse & Fröhlich-Gildhoff (2010):
Förderung von Selbst- und Fremdwahrnehmung
Aufbau emotionaler und sozialer Kompetenzen → Kinder lernen, Belastungen zu bewältigen und stabile Beziehungen aufzubauen.
(Seite 27) Welche drei Faktoren schützen Jugendliche vor frühem Substanzkonsum?
Rothenberg et al. (2020) identifizierten drei protektive Faktoren:
Aktive Stressbewältigung / Selbstregulation
Teilnahme an positiven Freizeitaktivitäten
Gute Schulleistungen
Diese Faktoren können die intergenerationale Weitergabe von Substanzkonsum unterbrechen.
(Seite 28) Was kennzeichnet das Programm „Familien stärken“?
Ein familienbasiertes Gruppenprogramm für Eltern & Jugendliche (10–14 Jahre):
Ziele: Kommunikation verbessern, Erziehungsstrategien stärken, Familienbindung erhöhen
Wirksamkeit: Besonders Risikofamilien profitieren deutlich (Bröning et al., 2016; Baldus et al., 2016)
(Seite 29) Welche Faktoren helfen Eltern, ihre Erziehungsrolle trotz Sucht zu verbessern?
Drei zentrale Ansätze laut Experteninterviews:
Entlastung und Schuldreduktion → Motivation für Veränderung
Förderung von Feinfühligkeit & Mentalisierungsfähigkeit
Stärkung der Selbstfürsorge
Leitgedanke:
Sucht und Elternschaft müssen gemeinsam gedacht und behandelt werden.
(Seite 31) Was zeigen aktuelle Metaanalysen über den Zusammenhang zwischen elterlichen Kindheitserfahrungen (ACEs) und der Entwicklung ihrer Kinder?
Laut Racine et al. (2023):
Kein Zusammenhang mit kognitiver oder sprachlicher Entwicklung
Aber: Signifikanter Zusammenhang mit psychischer Gesundheit der Kinder
r = 0,17: allgemeine psychische Belastung
r = 0,17: internalisierende Probleme (z. B. Angst, Depression)
r = 0,14: externalisierende Probleme (z. B. Aggression, Impulsivität)
Diese Effekte traten unabhängig von Alter, Geschlecht, Einkommen oder Herkunft auf.
(Seite 32) Was bedeuten die Begriffe Äquifinalität und Multifinalität in der Entwicklungspsychologie?
Zwei zentrale Konzepte zur Erklärung unterschiedlicher Entwicklungsverläufe:
Äquifinalität: Verschiedene Ursachen → gleiches Ergebnis Beispiel: Alkoholmissbrauch in der Schwangerschaft oder genetische Faktoren → Intelligenzminderung
Multifinalität: Gleiche Ausgangsbedingung → verschiedene Ergebnisse Beispiel: Leben mit depressiver Mutter → Kind A entwickelt Ängste, Kind B Depression
(Seite 33) Warum sollte Prävention nicht nur auf das Individuum abzielen?
Weil Entwicklungsrisiken systemisch bedingt sind.
Effektive Prävention muss auch gesellschaftliche und strukturelle Ursachen verändern
Zitat BZgA: „Warum Krankheiten behandeln, ohne zu verändern, was sie hervorruft?“
Einseitige Individualprävention kann unbeabsichtigt das System legitimieren, das die Belastung erzeugt.
(Seite 34) Was ist der Unterschied zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention?
Verhaltensprävention
Verhältnisprävention
Fokus auf Individuum
Fokus auf Umfeld / Struktur
Ziel: Verhalten ändern
Ziel: Bedingungen verbessern
Beispiel: Trainings zu Stressbewältigung
Beispiel: Bessere Familien- und Gesundheitspolitik
Merksatz (inhaltlich, nicht als Eselsbrücke):
Nur das Zusammenwirken beider Ansätze verhindert das „Blaming the Victim“.
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