(Seite 2) Was betont Ilka Quindeau aus tiefenpsychologischer Sicht über den Ursprung menschlicher Sexualität?
Der Ursprung liegt in der sozialen Situation des frühen Lebens.
• Begehren entsteht aus Erfahrungen des Begehrens und Begehrt-Werdens, nicht bloß aus Biologie.
• Sexualität ist nicht vollständig erklärbar durch Fortpflanzungszwecke oder Sinnesreize – Fantasien zeigen ihre psychische Eigenständigkeit.
(Seite 3) Wie hinterfragt Quindeau die Vorstellung „männlicher“ und „weiblicher“ Sexualität?
Sie lehnt die biologistische Verknüpfung von Geschlecht und Sexualität ab.
• Ihr Konzept der Bisexualität meint Offenheit in beide Richtungen:
– des Begehrens (objektbezogen)
– des eigenen Empfindens (Selbsterleben)
• Lust und Begehren entstehen reaktiv auf das, was von außen Befriedigung verschafft – nicht festgelegt auf „männlich“ oder „weiblich“.
(Seite 4) Was umfasst der Begriff „Queer“ und welche gesellschaftlichen Normen werden damit herausgefordert?
„Queer“ ist ein Sammelbegriff (LGBTQIAP+, Plurisexualität, Kink …).
Er stellt klassische Normen infrage:
Begehren – heterosexuelle Norm
Beziehungsform – Monogamie
Geschlechtsidentität – binär, kongruent mit biologischem Geschlecht → Betonung von Diversität in Sexualität, Gender und Beziehung.
(Seite 9) Ab wann differenzieren sich die biologischen Geschlechter pränatal, und welche Vielfalt kann entstehen?
Etwa 6–7 Wochen nach der Einnistung reagieren Embryos unterschiedlich auf Androgene.
→ Es entwickeln sich:
• biologisch weibliche oder männliche Konstellationen
• oder intergeschlechtliche Varianten (VDG = Variante der Geschlechtsentwicklung).
Details merken:
Menschen, deren Körper nicht in die binäre Norm passt, erleben oft eine andere gesellschaftliche Realität – unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität.
Das Sternchen () bei Inter steht für die Vielfalt intergeschlechtlicher Körperlichkeiten.
(Seite 9) Was bedeutet „Homologie der Genitalien“?
Homologe Körperteile haben dieselbe biologische Herkunft, erfüllen aber unterschiedliche Funktionen.
→ Männliche und weibliche Genitalien sind aus denselben embryonalen Strukturen entstanden.
(Seite 11) Was meint der Satz „All the same parts, organized in different ways“?
Er beschreibt, dass beide Geschlechter aus denselben anatomischen Bauteilen bestehen, die lediglich anders organisiert sind.
→ Sexualität zeigt Variabilität statt Gegensätzlichkeit.
Beispiele für Homologie:
• Klitoris ↔ Penis
• Glans Clitoris ↔ Eichel
• Schwellkörper der Klitoris ↔ Penisschwellkörper
• Labien ↔ Hodensack / Vorhautanteile
Quelle: O’Connell et al. (2005)
(Seite 13) Welche zentralen Merkmale kennzeichnen die Sexualität in der Kindheit?
• Sexualität hat ihre Wurzeln in der Kindheit – physiologische Reaktionen sind von Geburt an erkennbar.
• Masturbation und sexuelle Spiele mit Gleichaltrigen sind vor der Pubertät nicht ungewöhnlich.
• Solche Erfahrungen sagen nichts über spätere sexuelle Orientierung aus.
• Sozialisationseinflüsse variieren stark zwischen Kulturen.
Das Jungfernhäutchen hat keine biologische Funktion – seine kulturelle Deutung als „Barriere“ zeigt, wie Anatomie gesellschaftlich mit Bedeutung aufgeladen wird.
(Seite 14) Wie beeinflusst die Familie die frühe sexuelle Sozialisation?
Die familiäre Offenheit im Umgang mit Sexualität ist entscheidend:
• Möglichkeit, mit Eltern über Liebe und Sexualität zu sprechen
• Umgang mit Nacktheit in der Familie
Studien (z. B. PARTNER-4-Studie) zeigen:
→ große Unterschiede je nach Region, Bildungsgrad und Migrationshintergrund.
(Seite 15) Welche biologischen und psychischen Prozesse prägen die Pubertät?
• Beginn: meist zwischen 10–12 Jahren
• Hormonanstieg führt zu sekundären Geschlechtsmerkmalen
• Erste sexuelle Anziehung korreliert mit der Reifung der Nebennieren (Frühpubertät ≈ 10 Jahre)
• Menarche = erste Menstruation
• Spermarche = Beginn der Spermienproduktion
(Seite 16) Wie verändert sich Sexualität in der Adoleszenz?
• Zunahme gleichgeschlechtlicher Freundschaften in der frühen Phase
• Später: mehr Interaktionen zwischen den Geschlechtern
• Durchschnittsalter für erste sexuelle Anziehung ≈ 10 Jahre
• Beginn der Suche nach sexueller Identität
(Seite 20) Welche biopsychosozialen Einflüsse bestimmen das Alter des „sexuellen Debüts“?
Biologisch: Pubertätszeitpunkt, körperliche/psychische Einschränkungen
Psychologisch: Bindungsangst, Sensation Seeking, Einstellungen zu Sex
Sozial: Eltern-Kind-Beziehung, Peers, Medien, Technologie → Früher Beginn kann mit höherem Risiko (Verhütung, Infektionen) verbunden sein.
(Seite 22) Welche sexuellen Verhaltensmuster zeigt der „National Survey of Sexual Health and Behavior“ im Erwachsenenalter?
• Menschen bleiben über die Lebensspanne sexuell aktiv, aber mit Variationen nach Alter und Geschlecht.
• Männer masturbieren häufiger als Frauen, beide aus ähnlichen Gründen (z. B. Spannungsabbau, Entspannung).
• Vaginalverkehr ist die häufigste Praktik, Analsex nimmt zu, betrifft aber alle Orientierungen.
• Sexfrequenz korreliert positiv mit Wohlbefinden und Partnerschaftszufriedenheit.
(Seite 25) Was zeigt die GeSiD-Studie zur Sexualität Erwachsener in Deutschland?
• Erhebung: 4.955 Personen (2018–2019)
• Menschen aller Altersgruppen sind sexuell aktiv, aber
– Häufigkeit und Vielfalt der Praktiken nehmen mit dem Alter ab.
• Durchschnittliche Partnerzahl:
– Männer: 9,8, Frauen: 6,1
• Soziale Erwünschtheit beeinflusst Angaben:
– Männer neigen zu Übertreibung, Frauen zu Untertreibung wegen Stigma.
(Seite 27) Welche kulturellen Einflüsse beschreiben Lippa (2009) und andere?
Unterschiede im Sexualverhalten hängen auch vom sozialen und kulturellen Kontext ab:
• Sex Drive (Sexualtrieb) → bleibt über Länder hinweg relativ stabil.
• Sociosexuality (Offenheit für unverbindlichen Sex) → variiert mit:
– Gleichberechtigung
– ökonomischer Entwicklung
→ Fazit: Sexuelles Verhalten ist teils biologisch konstant, teils kulturell geprägt.
(Seite 30) Welche Faktoren beeinflussen das Sexualleben älterer Erwachsener am stärksten?
• Eigen- und Partnergesundheit sind die wichtigsten Einflussfaktoren.
• Mit zunehmendem Alter verändert sich, was sexuelle Zufriedenheit bedeutet:
– Quantität nimmt ab
– Qualität und Nähe gewinnen an Bedeutung.
• Ein aktives Sexualleben fördert das körperliche und psychische Wohlbefinden,
inklusive positiver Effekte auf kognitive Funktionen.
(Seite 31) Welche Stereotype und Forschungslücken bestehen zur Sexualität im Alter?
• Ältere Menschen werden oft als „postsexuell“ wahrgenommen – das ist ein Mythos.
• Viele Senioren bleiben sexuell aktiv, ihre Bedürfnisse werden aber häufig übersehen.
• Forschungslücken:
– LGBTIQ+-Personen im Alter
– Interkulturelle Vergleiche
– Singles, die oft fälschlich mit Sexlosigkeit gleichgesetzt werden.
(Seite 34) Wie verbreitet ist nicht-heterosexuelle Orientierung laut aktuellen Daten?
• In Deutschland bezeichnen sich 3–4 % der Bevölkerung als lesbisch, schwul oder bisexuell.
• „Nicht ausschließlich heterosexuell“:
– Frauen: ca. 11–22 %
– Männer: ca. 10–14 %
• USA: 21 % der Generation Z (1997–2003) identifizieren sich als LGBTQ,
– Mehrheit davon bi+sexuell,
– häufiger bei Frauen.
(Seite 35) Was umfasst der Begriff „sexuelle Orientierung“ nach Lehmiller (2017)?
Ein einzigartiges Muster aus:
Sexuellem und romantischem Begehren
Sexuellem Verhalten
Sexueller Identität
→ Sie ist individuell, veränderlich und oft Quelle von Diskriminierungserfahrungen.
(Seite 36) Wann und wie erleben Jugendliche gleichgeschlechtliche Anziehung?
• Viele Jugendliche fühlen sich vom anderen Geschlecht angezogen,
aber eine relevante Minderheit erlebt früh gleichgeschlechtliche Anziehung.
• Erstes Bewusstwerden meist mit 8–9 Jahren.
• Häufig verbunden mit:
– Gefühl, „anders“ zu sein
– sozialem Druck und Gender-nonkonformem Verhalten
• Jugendliche aus sexuellen Minoritäten zeigen häufiger psychosoziale Belastungen,
abhängig vom elterlichen Erziehungsstil.
(Seite 37) Welche Stärken und Schwächen hat die Kinsey-Skala?
Vorteile:
• Erfasst Sexualität als Kontinuum statt fester Kategorien.
• Offen für Veränderungen über die Lebensspanne.
Kritik:
• Lässt Asexualität und Pansexualität aus.
• Kinseys Stichprobe war nicht repräsentativ (z. B. zu viele Studierende).
(Seite 38) Was meint „sexuelle Fluidität“ und was zeigen Studien dazu?
• Sexuelle Fluidität = Veränderbarkeit der sexuellen Anziehung über Zeit und Personen hinweg.
• Besonders bei Frauen beobachtet („erotische Plastizität“):
– In einer 10-Jahres-Studie wechselten 2/3 der Frauen ihre Kategorie.
• Männer zeigen ebenfalls Veränderungen (Diamond et al., 2017).
Begriff:
→ Erotische Plastizität (Baumeister, 2000): Sexualität ist sozial beeinflussbar und flexibel.
(Seite 39) Was beschreibt die „Sexual Configurations Theory“ (SCT) von Van Anders (2015)?
• SCT versteht Sexualität als mehrdimensionales, sozial eingebettetes Phänomen.
• Sie integriert Gender, Sex und vielfältige Sexualitäten.
→ Ziel: das Verständnis von Sexualität jenseits starrer Orientierungs-Kategorien (z. B. nur homo/hetero).
(Seite 40) Welche Merkmale kennzeichnen Menschen, die sich als asexuell beschreiben?
• Empfinden kein sexuelles Begehren, teils generell, teils auf Personen bezogen.
• Nicht dasselbe wie Zölibat oder sexuelle Dysfunktion.
• Können dennoch:
– romantische Bindungen eingehen
– gelegentlich sexuell aktiv sein („split attraction“)
• Masturbation: seltener, oft ohne konkrete Fantasien.
• Kaum erforscht, aber physiologisch erregbar.
(Seite 43) Was erklärt das Minoritätenstress-Modell (Meyer, 2003)?
Es beschreibt, wie Diskriminierung psychische Gesundheit beeinflusst.
Distale Stressoren:
• Vorurteile, Mikroaggressionen, Gewalt
Proximale Stressoren:
• Selbststigma, Angst vor Ablehnung, Verbergen der Identität
Moderatoren:
• Alter, Geschlecht, Ethnie, Identitätsmerkmale
Folge:
→ Erhöhtes Risiko für psychische Belastungen (Depression, Angst, etc.).
(Seite 44) Welche biologischen Einflüsse auf sexuelle Orientierung sind belegt?
• Neuroanatomie: Unterschiede in Hypothalamus und Amygdala (Savic & Lindström, 2008; LeVay, 1991)
• Pränatale Androgene: Lesbische Frauen zeigen häufiger höhere Androgenexposition.
• Genetische Faktoren: Hinweise auf Unterschiede in Genregionen (Bogaert & Skorska, 2020)
• Fraternal Birth Order Effect: Je mehr ältere Brüder, desto wahrscheinlicher homosexuelle Orientierung.
• Zwillingsstudien: Höhere Übereinstimmung bei eineiigen als bei zweieiigen Zwillingen (moderat).
(Seite 45) Wie wird die biologistische Perspektive kritisch eingeordnet?
• Befunde zeigen Korrelationen, keine Kausalität.
• Neuronale Plastizität erlaubt, dass Unterschiede durch Erfahrungen entstehen können.
• LeVay selbst betont:
→ Seine Studien beweisen nicht, dass Menschen „so geboren“ sind,
da Gehirne posthum untersucht wurden.
(Seite 47) Was besagt die „Kin-Selection-Hypothese“ zur evolutionären Entstehung homosexueller Orientierung?
• Ursprung: inclusive fitness – homosexuelle Männer könnten indirekt zur Arterhaltung beitragen.
• Beispiel: Fa‘afafine auf Samoa
– gender-nonkonformes Verhalten wird kulturell anerkannt
– sie übernehmen familiäre Fürsorgeaufgaben
→ Durch höhere Investition in Verwandte sichern sie den Überlebensvorteil ihrer Familie.
(Seite 48) Was ist die „Alloparenting-Hypothese“ bei Frauen – und was ist ihre Schwäche?
• Hypothese: Flexible Sexualität könne bei fehlendem Vater oder in polygynen Gesellschaften Vorteile bringen.
• Funktion: Unterstützung durch andere Frauen bei Kinderaufzucht.
• Bewertung: Provokativ, aber nicht belegt – evolutionäre Erklärungen bleiben schwer prüfbar.
(Seite 49) Was erklärt Daryl Bems Theorie „Exotic becomes erotic“ (1996)?
• Anlagen beeinflussen kindliche Aktivitäten → führen zu genderkonformem oder -nonkonformem Verhalten.
• Wer sich vom eigenen Geschlecht „anders“ fühlt, erlebt physiologische Erregung,
die in der Pubertät zu sexueller Anziehung werden kann.
→ Erklärung für gleichgeschlechtliche Orientierung – aber nicht empirisch belegt.
(Seite 50–51) Welche psychosozialen Einflüsse gelten als widerlegt oder wenig relevant?
Laut Bailey et al. (2016):
• Verführung / „Recruitment Hypothese“: keine Evidenz.
• Eltern-Kind-Beziehung: kaum Einfluss.
• Erziehung durch nicht-heterosexuelle Eltern: kein relevanter Effekt.
• Konversionstherapien: wirkungslos.
→ Soziale Faktoren allein erklären sexuelle Orientierung nicht.
(Seite 51) Was ergibt die integrative Sicht auf biologische und soziale Einflüsse?
• Selbst unter extremem sozialen Druck (z. B. anatomische Geschlechtsumwandlung im Kindesalter)
bleibt die spätere sexuelle Orientierung stabil.
→ Starke Hinweise auf nicht-soziale, biologische Grundlagen.
(Seite 52) Wie zeigt sich das Wechselspiel von Gender und sexueller Orientierung bei Bi+ Personen?
Beispielhafte qualitative Befunde:
• Männer erleben Sex mit Männern als kontrollierter, mit Frauen als gefühlsbetonter.
• Frauen berichten, dass sie mit Frauen freier flirten, aber mehr Initiative zeigen müssen.
• Dynamik: je nach Partner*in unterschiedliche Rollen (dominant/devot).
→ Bestätigung: Gender und Sexualität sind relational und kontextabhängig.
(Seite 53) Was sind zentrale Erkenntnisse im Fazit zur sexuellen Orientierung?
• Viele Einflussfaktoren (biologisch, psychologisch, sozial) wirken zusammen.
• Fluidität gewinnt theoretisch an Bedeutung.
• Forschung bewegt sich von Differenz hin zu Diversität.
→ Sexualität = Work in Progress, dynamisch und individuell.
(Seite 54) Was bedeutet der „schrittweise Paradigmenwechsel“ in der Sexualforschung laut Van Anders (2015)?
• Wandel von starren Kategorisierungen (homo/hetero, männlich/weiblich)
hin zu einem integrativen Verständnis von Sexualität.
• Sexualität wird als vielschichtiges Zusammenspiel von
Gender, biologischem Geschlecht und sozialem Kontext betrachtet.
→ „Der Weg ist noch weit, aber begonnen – er betrifft alle.“
(Seite 55) Welche Kernaussage formuliert Alfred C. Kinsey über Vielfalt in der Sexualität?
„Only the human mind invents categories and tries to force facts into separated pigeonholes.“
• Sexualität ist ein Kontinuum, kein System getrennter Schubladen.
• Menschliche Vielfalt lässt sich nicht durch feste Kategorien erfassen.
→ Die lebende Welt ist in allen Aspekten fließend und graduell.
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